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»Sei nicht traurig, du bist tapfer«

»Widerstände«: Eine neue Ausstellung im Jüdischen Museum Berlin erinnert an jüdische Designerinnen

Lithografie von Käte Wolff, Lübeck 1916
Lithografie von Käte Wolff, Lübeck 1916

Liebe Mama und ihr anderen 3, nun kommen wir an die Reihe, am Mittwoch soll es fortgehen … Die Aussichten sind mehr als schlecht … Also ihr Lieben, wann werden wir uns wieder sehen u. ob? … Große Hoffnung mache ich uns keine liebes Mamischen. Sei nicht traurig, du bist tapfer. Du weisst wie lieb ich dich habe.« Zeilen aus dem Abschiedsbrief von Paula Straus, datiert auf den 15. August 1942, kurz vor ihrer Deportation gen Osten. Die 1894 in Stuttgart geborene und am 10. Februar 1943 in Auschwitz ermordete Gold- und Silberschmiedin gehörte zu den ersten Industriedesignerinnen in Deutschland, hatte sich in den sogenannten Goldenen Zwanzigern in einer Männerdomäne einen Namen gemacht.

Nein, auch wenn der millionenfache Mord an den Juden Deutschlands und Europas hier allgegenwärtig ist, werden die in dieser Ausstellung vorgestellten Frauen nicht als Opfer porträtiert, sondern als selbstbewusste und selbstbestimmte, kluge und kreative Künstlerinnen, die sich zu Beginn des 20. Jahrhundert gegen etliche Widerstände, patriarchalische Strukturen wie auch Frauenfeindschaft und Judenhass durchsetzten und maßgeblich die Modernisierung der deutschen Gesellschaft mit beförderten. Viele von ihnen sind heute kaum mehr bekannt, von einigen ist noch nicht einmal ein Foto überliefert. Deutsche Antisemiten versuchten, ihre Spuren auszulöschen, Erinnerungen zu tilgen. Was ihnen nicht gänzlich gelingen sollte.

An die 400 Exponate bietet diese weltweit erste umfassende Ausstellung über jüdische Designerinnen. Sie verdankt sich einer zufälligen Entdeckung der Historikerin Michal Friedlander, studierte Orientalistin, die sich auf jüdische Geschichte spezialisierte, in Museen von New York über Los Angeles bis Berkeley arbeitete und jetzt die Berliner Exposition mit Herzblut kuratierte. Ihr Vater, Rabbi Albert Friedländer, hatte als Kind in Berlin die Pogromnacht vom 9./10. November 1938 erlebt; im Jahr darauf konnte er mit seiner Familie über Kuba in die USA emigrieren, mit dem letzten Schiff, der legendären MS »St. Louis«.

Zur Eröffnung der neuen Schau im Jüdischen Museum Berlin berichtet Michal Friedlander von einem Silberschmuck, den sie als Museologin ersteigerte. Das Auktionshaus ahnte nicht, um welch einen Schatz es sich dabei handelte, den reinen Materialwert vielfach übersteigend. Zum Glück für die Michal Friedlander mit dem Einkauf beauftragende Institution, wie die Kuratorin verschmitzt-lächelnd verrät. Es war eine Arbeit von Emmy Roth, eine der bedeutendsten deutschen Silberschmiedinnen des vergangenen Säkulum. Ihre Werke waren auf den Leipziger Messen zu sehen und 1937 gar auf der Pariser Weltausstellung, im Pavillon »Israel in Palästina«. Emmy Roth war rechtzeitig die Flucht aus Nazideutschland gelungen. An Krebs erkrankt – und gewiss auch unter der seelischen Last des in Europa wütenden eliminatorischen deutschen Antisemitismus –, nahm sie sich 1942 in Tel Aviv das Leben. »Ihr Werk geriet wie das vieler großartiger jüdischer Künstlerinnen in Vergessenheit«, weiß Michal Friedlander, die nun also angetreten ist, dies zu korrigieren.

Zu bewundern sind in der Ausstellung vor allem Alltagsgegenstände, Geschirr und Besteck, Modeutensilien, Taschen und Hüte, Ojekte, die religiösen Zeremonien dienten, sowie Kostüme für Theater, Oper und Film. Ein Eyecatcher ist die zeitlos schöne knallrote, quadratische Wanduhr im Bauhausstil von Margarete Heymann-Loebenstein, der als einer der wenigen von den 62 hier zu erlebenden Designerinnen ein hohes Lebensalter vergönnt war; sie starb über 90-jährig 1990 in London.

Ins britische Exil hatte sich ebenso die Modedesignerin Dörte Wolff retten können, die Kostüme entwarf, unter anderem für Marlene Dietrich. Berühmt wurde sie jedoch mit ihren farbenfrohen Gouachen für das Satiremagazin »Ulk«, mit denen sie die High Society der Weimarer Republik aufs Papier bannte und die sie mit »Dodo« signierte. In England konnte sie nicht mehr an ihren Erfolg in Deutschland anknüpfen.

Sie werden nicht als Opfer porträtiert, sondern als selbstbewusste und selbstbestimmte, kluge und kreative Künstlerinnen.

Es dürfte nicht verwundern, dass in der Ausstellung auch Puppen und Spielzeug präsent sind, waren die Frauen doch auch Mütter. Käte Baer-Freyer wurde mit ihren biblischen Puppenspielen bekannt. Zu den in Versform verfassten Geschichten ihres Mannes Albert Baer fertigte sie bewegliche Holzfiguren. Das Paar wanderte in düsterer Vorahnung schon 1933 nach Palästina aus.

Berührend das Zeugnis von Edith Samuel: »Es war eine grausame Zeit für uns Juden. Familien wurden auseinandergerissen. Eltern retteten ihre Kinder ins Ausland und blieben einsam zurück. Da kamen die ersten schüchternen Anfragen, ob ich nach Fotos Portraitpuppen machen könnte … Nicht immer glückte mir das … So wünschte sich eine Mutter das Kinderportrait ihrer Tochter, die nach Südafrika ausgewandert war. Ich machte es, so gut ich konnte. Aber als die Mutter die Puppe sah, rief sie enttäuscht: ›Das soll Marianne sein?‹ Ich war tief beschämt und nahm die Puppe nach Hause zurück.« Die Ausstellung zeigt ein lustiges Selbstporträt von Edith Samuel als Stoffpuppe. Und auch Puppen von Marianne Heymann, die liebe- wie respektvoll ihre männlichen Künstlerkollegen Paul Klee und Oskar Schlemmer karikierte.

Erinnert wird an die Kostüm- und Bühnenbildnerin Hanna Litten, die verblüffende Ähnlichkeit mit Anne Frank aufweist und ebenfalls jung starb, mit 22 in Riga, das die deutschen Aggressoren in ein riesiges Ghetto verwandelt hatten. Ebenfalls in der Hauptstadt Lettlands wurde Lilli Szkolny ermordet, die das einst populäre Kinderbuch von Meta Samson »Spatz macht sich« (1938) illustriert hatte; die Schriftstellerin wurde in Auschwitz umgebracht, im selben Jahr wie ihre Illustratorin: 1942. Ein verfluchtes Jahr, das mit der Wannsee-Konferenz begann, auf der ministerial-technokratisch die »Endlösung« koordiniert wurde.

Von Adele Sandler gibt es nebst einem »Palästina-Quartett« ein Bilderbuch für Vorschulkinder, das in jüdische Fest- und Feiertage einführt und jüdisch-religiöses Leben mit säkularer deutscher Kultur verbindet: »Auch jüdische Kindern fahren bei Schnee gern Schlitten.« Nicht nur ein Palästina-Domino fertigte Anni Rosenblüth, unter dem Künstlernamen Ross zu ihrer Zeit bekannt, sondern auch deutsche und internationale beliebte Märchenfiguren wie Hans im Glück, Hänsel und Gretel, Rotkäppchen und die Bremer Stadtmusikanten, die 1951 auf einer Nationalaufstellung in England das Prädikat »Best of British« erhielten. Mit zarten Marionetten, angelehnt an das traditionelle indonesische Schattenspiel (Wayang), nur eben hier mit König Salomon und der klugen, schönen Königin von Saba, beglückte Käte Baer-Freyer, die 1988 in einem Kibbuz in Israel starb, dereinst jüdische Kinder. Apropos, es wird in der Ausstellung nicht verschwiegen, dass viele jüdische Designerinnen sozialistischen Ideen zugetan waren.

Informiert wird über den Beitrag jüdischer Künstlerinnen zur Reformpädagogik in der Weimarer Republik mit kindgerechten Fibeln und Lernspielen. Vorgestellt wird die Reimann-Schule, 1902 von Albert und Clara Reimann in Berlin gegründet. Sie vereinte Theorie und Praxis, unterrichtete auch in künstlerischen und handwerklichen Fächern (man erinnert sich an die POS, die Polytechnischen Oberschulen der DDR). Die Reimann-Schule wurde während der Novemberpogrome 1938 verwüstet.

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Witzig die »Pritzelpuppe« (1913) von Lotte Pritzel, Werbegag für die Keksfirma Bahlsen, die unterm Hakenkreuz von der Verdrängung jüdischer Konkurrenz, der Ausbeutung von Zwangsarbeitern und der Einstufung als »kriegswichtiger Betrieb« profitierte, »eiserne Rationen« für die Wehrmacht fabrizierte, Knäckebrot und Zwieback. Solche Informationen finden sich leider in der Ausstellung nicht. Ebenso nicht die Nachkriegsgeschichte der Kölner Schokoladenfabrik Ludwig Stollwerck, die einen Mini-Sparautomaten für Kinder bei Elli Hirsch in Auftrag gegeben hatte. Die in den 70er Jahren ins finanzielle Straucheln gekommene Firma »sanierte« sich nach der deutschen »Vereinigung« durch die Übernahme des volkseigenen Thüringer Schokoladenwerks Rotstern, einst größte Schokofabrik der DDR. 

Es gäbe noch viel zu berichten über die Ausstellung »Widerstände«. Es ist dort viel zu entdecken und zu erleben, auch für Kinder, die sich unter anderem mit Kleiderschnitten für Papierpüppchen (wer kennt so etwas noch?) ausstatten können. Ein sorgsam aufgemachter, solider Begleitkatalog offeriert lesenswerte Aufsätze sachkundiger Autoren.

Die jüdischen Designerinnen haben sich selbstredend auch explizit politisch positioniert. Ein Plakat von Esther Berlin-Joel, um 1935 in Palästina entstanden, verkündet: »Wir kaufen nur unsere eigenen Produkte«. Es rief zum Boykott importierter Waren auf, um die Erzeugnisse jüdischer Bauern und Arbeiter zu schützen. Auch eine Form von Widerstand, von Überlebenskampf. Von Esther Berlin-Joel stammt ebenso eine Grafik, die ein Schiff auf stürmischer See mit jüdischen Flüchtlingen an Bord zeigt: »Zion, wirst du dich nicht um das Wohlergehen deiner illegalen Gefangenen kümmern?« Auch dies eine höchst aktuelle Botschaft. Und wie schön: Nach der offiziellen Eröffnung tanzten junge Leute lebensfroh im Innenhof des Jüdischen Museums zu Disco-Musik. Das hätte den Verfolgten, Vertriebenen, Ermordeten gefallen.

»Widerstände. Jüdische Designerinnen der Moderne«, Jüdisches Museum Berlin, bis 23. November, tägl. 10-18 Uhr. Katalog (Hirmer Verlag, 304 Seiten, 250 Abb., 45 €); Begleitprogramm www.jmberlin.de/widerstaende

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