Gottsucher treffen Schlafsucher

Die wichtigste deutsche Literaturzeitschrift wird sechzig – Veranstaltung an der Berliner Akademie der Künste

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.

Die Menschen sind wenn sie h a n d e l n höchst alltäglich und man mag ihnen höchstens wenn sie t r ä u m e n einiges Interesse abzugewinnen.

Nachtwachen des Bonaventura

Sinn und Form« beherrscht seit ihrer Gründung vor sechzig Jahren die Kunst des Ausweichens. Diese Zeitschrift war immer eher ein Ort des beharrlichen Aushaltens, des hinhaltenden Widerstands gegen die falschen Maßstäbe des Tages, als das, was man so leichthin und darum fälschlich als »kritisch« oder »engagiert« bezeichnet. Nein, »Sinn und Form« wurde seinen Lesern dadurch wichtig, dass sie ihnen beistand, einen verlorenen Posten nicht aufzugeben. So melancholisch, so wenig optimistisch muss man das wohl formulieren.

Jdoch, welch geradezu fröhlich behaupteter Anachronismus in einer Zeit des Zeitungssterbens, die noch viel antiquiertere Form der Zeitschrift als das zu nehmen, was sie für ihre Leser dennoch ist: eine Lebensnotwendigkeit. Sieht man in »Sinn und Form« ein Beispiel, dann weiß man wieder, dass Auflagenhöhe gewiss eine schöne Sache ist, aber niemals um jeden Preis. Es muss in einer Gesellschaft Inseln des Geistes geben, denn ohne sie erführe das Festland nicht, dass es selbst nur eine Insel ist, die in der Gefahr der gänzlichen Verödung steht. Zeitschrift heißt ja nicht zufällig: das, was sich einer Zeit einschreibt. Zeitschriften sind nicht wie Zeitungen für den Tag, aber auch nicht wie das Buch für die (zumeist nur eingebildete) Ewigkeit gemacht. Sie besiedeln ein Zwischenreich der Zeiten, jene Grenzregion, in der Alltag und Anspruch aufeinanderstoßen. Bevorzugte und dennoch unter den systematischen Deutschen (anders als bei den Franzosen) beargwöhnte Form ist dabei das ebenso ab- wie aufbrechende Fragment, die zugespitzt subjektive Eroberung einer Welt, die immer auch die Innenwelt des Autors meint.

Wie feiert sich eine solche Zeitschrift, die nie vordergründig danach strebte, originell zu sein und es gerade so, in die Wort-Sache vertieft, immer war? Sie lädt unter der Überschrift: »Metaphysik der Schlaflosigkeit« in die Akademie der Künste (die der Herausgeber ist) an den Pariser Platz. Eine Merkwürdigkeit gewiss. Hermann Hesse hatte es einmal so formuliert: wer nicht wenigstens ab uns zu eine schlaflose Nacht verbringe, den müsse man fürchten in seiner aufgerüsteten Gesundheit, denn ihm mangle an Menschlichkeit. Das weist weg von der Tag- hin zur Nachtseite unserer Existenz. Es gibt das Wort der deutschen Mystik von der »Nachthelle« – genau darum geht es, um jene paradoxen Zustände der Über-Wachheit des Übermüdeten.

Was in den kommenden zwei Stunden – vom Redakteur der Zeitschrift Matthias Weichelt moderiert – folgt, sind Umkreisungen jenes Phänomens, das der Name »Sinn und Form« in sich birgt. Volker Braun spricht von einer »Chronik der Bewusstseinslagen«, darüber, dass Unterdrückung Freiheit provoziert: »Es gibt auch heute einen Druck untragbarer Verhältnisse.« Das war und ist die Rechtfertigung für die andauernde Existenz dieser Zeitschrift, sie verbürgt Autonomie. Jedoch auf eine Weise, die Autoren, Redaktion und Leser im glückhaften Gelingen einer sie nicht in ihrer Individualität reduzierenden, sondern, im Gegenteil, diese stärkenden Gemeinschaft verbindet.

Man darf also nur hoffen, dass sich die Akademie der Künste auch weiterhin eine Zeitschrift leistet, in die sie nicht hineinreden darf. Aber gerade das beweist eben Souveränität in geistigen Dingen. Es geht nie darum, eigene Meinungen bestätigt zu finden. Im Gegenteil: Im geistigen Disput über die Diagnose, die der Zeit zu stellen ist, nicht zu diamentral entgegengesetzten Urteilen zu kommen, hieße, die Wahrheit unzulässig halbieren. »Sinn und Form« provoziert mit Anspruch. Mehr noch, sie scheut weder vor metaphysischen (statt soziologischen und kommunikationstheoretischen) noch theologischen Fragestellungen zurück. Volker Braum wagt den freundlichen Vorbehalt, vielleicht sei die »Sinn und Form« auf ihre alten Tage »etwas religiös« geworden. Was sich jedoch auch dadurch erklärt, dass diese Zeitschrift – anders als etwa der Münchener »Merkur« – nie aufgehört hat, in eigener Sache beharrlich auf Osteuropa zu blicken. Autoren wie Nikolai Berdjajew und Wladimir Solowjow gehören zu den (Wieder)Entdeckungen der Ära des Chefredakteurs Sebastian Kleinschmidt, dem promovierten Philosophen der Humboldt Universität, seit 1984 in der Redaktion, einer von bislang sechs Chefredakteuren der Zeitschrift. Nun ist er bereits derjenige, der sie, seit 1991, am längst von allen leitet.

Beinahe hätte ihn allerdings ausgerechnet der damalige Akademiepräsident Walter Jens in Oberlehrermanier (wie er später selbst eingestand) 1993 aus dem Amt gejagt. Auch Hans Mayer forderte die Einstellung der Zeitschrift, als es Kleinschmidt wagte, Tagebücher Ernst Jüngers in »Sinn und Form« zu veröffentlichen. Aber gegen solche Maßregelungen in Gutsherren- oder Parteisekretärsart rebellierte die soeben erst vereinigte Akademie erfolgreich. Im Streitfall »Sinn und Form« vereinigte sie sich nun erst wirklich.

Das Jubiläumsheft 6/2009 stellt Texte vor, die einem unsichtbaren – nie ausgesprochenem – Motto folgen. Sie alle umkreisen Traum- und Traumlosigkeit, die Übergänge von Wissen und Vergessen, Schlaf und Schlaflosigkeit. Thomas Hürlimann liest seinen Text »Das Motorrad«, ein wunderbar surrealer Zustandsbericht aus jener neurotischen Region des nicht zu zwingenden Schlafes, der schließlich noch allergischer der Stille als den gewohnten Lärm flieht. Der Schlaflose lernt des Nachts jene Demut vor dem Geschenk des Ausruhens, die ihm am Tag nicht nötig erscheint – sie wird ihm nun in der Verweigerung zuteil, sein überwaches Bewusstsein endlich verlassen zu dürfen, mit dem er jetzt, derart überwach, nichts Zielgerichtetes mehr anfangen kann.

Es gibt eine Folter der Schlaflosigkeit, die dem von ihr Betroffenen das am Tage verlorene Wissen zurückgibt, dass auch er nur ein den Gesetzen der Natur Unterworfener ist. Er fühlt auch wieder, tief in sich, manchmal auch panikartig als Gewissheit aufsteigend, dass der so sehr herbeigewünschte Schlaf der Bruder des Todes ist. Der sich verweigernde Schlaf gibt uns die Gewissheit zurück, nicht all das erzwingen zu können, was wir angestrengt wollen. Insofern ist jeder Schlaf eine subversive Tat gegen eine Welt der Nützlichkeiten. Vom schlechten Gewissen des Schlafenden spricht Michael Krüger (vielbeschäftigt als Autor, Verleger des Hanser Verlages und Herausgeber der »Akzente«). In der Zeit des Schlafes kann man so viele sinnvolle Dinge nicht tun, glaubt also, Zeit zu verschwenden. Nun habe er in quälenden Zeiten der Schlaflosigkeit einiges über sich lernen müssen.

Es ist ein von den Protestanten zu verantwortender Irrtum, dass man nur durch unablässigen Fleiß Gott gefällt. Das zur Konsequenz gebracht, stehen wir vor der banal-kapitalistischen Auskunft unserer Tage, dass Zeit Geld ist. Dagegen wehrt sich der Körper mit seiner Sehnsucht nach Schlaf und Traum. Ein Refugium, das kein Luxus, sondern eine Überlebensnotwendigkeit des Geistes ist – wie auch die Existenz von »Sinn und Form«. Schlaflosigkeit theologisch zu deuten, hieße daher vielleicht, den Traum bringenden Schlaf herbeizusehnen, so wie den in dieser Welt abwesenden Gott.

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