Linke Debattenphobien

Die Schwierigkeiten eines demokratischen Meinungsaustauschs

  • Harry Nick
  • Lesedauer: 4 Min.

Demokratische Sozialisten sind sich, soweit es beim Allgemeinen bleibt, darin einig, dass es Demokratie ohne lebendige Debattenkultur gar nicht geben kann, und dass Sozialisten nicht nur im Entwerfen verheißungsvoller Gesellschaftsbilder, sondern auch im Umgang untereinander heute Vorreiter, Beispiel dieser Kultur sein müssen. Schwierig wird es, wenn es konkret wird.

Auch die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des untergegangenen Realsozialismus, die Ursachen seines wirtschaftlichen Scheiterns hängen direkt mit linker Debattierphobie zusammen.

Charles Fourier (1772-1837) sagte über die Arbeit in einer künftigen Gesellschaft, in der jeder das werde tun können, wofür er das größte Talent besitze: »Die Menschen stürzen sich auf ihre Arbeit mit einem Eifer, der alle Hindernisse spottet. Sie sind von einem wahren Fanatismus erfüllt. (...) Das Wort unmöglich würde sie nur reizen, und die schwersten Arbeiten, wie das Anfahren von Erde, ginge ihnen leicht von der Hand.« So dachte die DDR-Führung 1953 sicher nicht, wohl aber so: Jetzt, da die Betriebe dem Volke gehören, kann man erwarten, dass die Werktätigen sich ordentlich ins Zeug legen, von sich aus besser arbeiten als im Kapitalismus.

Wie die Arbeiter dachten, erfuhr ich 1951 als Stangenzieher im Walzwerk Hettstedt. Vier Stunden nach Beginn der ersten Nachtschicht stellte mein Vormann die Maschine ab und schlug mir vor, den Betrieb näher zu besichtigten. Wir hätten die Norm mit 120 Prozent erfüllt. Und Normerfüllungen über 120 Prozent kämen nicht in Frage. Wenn die Betriebe unser Eigentum sein sollen, müsse auch Schluss sein mit der Schufterei und Zeitnehmerei. »Akkord ist Mord«.

Natürlich nahmen die Hettstedter Walzwerker am 17. Juni 1953 an den Streiks gegen die angeordnete allgemeine Erhöhung der Arbeitsnormen um 10 Prozent teil. Die Botschaft des Bergmanns Adolf Hennecke, der am 13. Oktober 1948 seine Norm im Zwickauer Steinkohlenrevier mit 387 Prozent erfüllt hatte und damit ein Beispiel für freiwillige Normerhöhungen geben wollte, hatte auch sie immer noch nicht erreicht. Die undifferenzierte Normerhöhung sei ein Fehler gewesen, bekannte die DDR-Führung. Den entscheidenden Fehler bekannte sie nicht: die Verweigerung eines aufrichtigen Dialogs mit dem Volke. Es hätte die reale wirtschaftliche Lage des Landes offen gelegt werden müssen. Der Frage, wie wollen und könnten wir leben, hätte in einer breiten öffentlichen Diskussion bis auf den Grund nachgegangen werden müssen. Und Probleme der Arbeitsmoral, ihrer wirtschaftlichen Folgen hätten zwischen Führung und Volk diskutiert werden müssen.

Dasselbe Trauerspiel wiederholte sich in noch groteskerer Weise 1989/90. Die DDR-Führung tauchte einfach ab, ließ ihre eigenen Leute vor Ort, die den Fragen, Vorwürfen und Vorschlägen der Menschen nicht ausweichen konnten, einfach im Stich. In einem ehrlichen Dialog hätte eingeräumt werden müssen, dass ohne eine viel konsequentere Handhabung des Leistungsprinzips und damit stärkerer sozialer Differenzierung, aber auch ohne eine kräftige allgemeine Senkung des Realeinkommens der wirtschaftliche Kollaps der DDR unausweichlich war. Auch eine absehbare marktwirtschaftlich-kapitalistische Alternative hätte offen diskutiert werden sollen.

Woher rührten Abneigung und Unfähigkeit zu wirklichem Dialog mit dem Volke? Ihre Ursachen waren systemischer Natur. In einem System, das sich im alleinigen Besitze einer endlich gefundenen Wahrheit glaubt und das Grundprinzip »Einheit und Geschlossenheit« stur verfolgt, wird jedes Eingeständnis auch einer punktuellen, partiellen Schwäche zum offenbarten Eingeständnis von Systemschwäche. Erfolgsmeldungen waren systemkonform, Meldungen über Mängel systemwidrig. Über Fehler, Versäumnisse kann da nicht geredet werden, schon gar nicht über solche der Führung. »Nur keine Fehlerdiskussion! Blick nach vorn!« lautete eine der wichtigsten und immer wieder wiederholten Folgerungen aus den Ereignissen des 17. Juni. Nötig ist offenbar immer noch die endgültige Überwindung eines schweren Erbteils, das den Austrag von Meinungsverschiedenheiten den Führungszirkeln vorbehält, auf Meinung und Haltung der Basis keine Rücksicht nimmt.

Heute sind in der LINKEN innere systemische Schranken einer wahrhaft demokratischen Debattenkultur wohl ausgeräumt. Diesmal kommt es in der Tat vor allem auf das Subjektive an. Auch deshalb, weil bedeutsame gesellschaftliche Veränderungen immer eine Unterbrechung, eine zeitweise Außerkraftsetzung der Marxschen These verlangen, wonach im Wettlauf zwischen einer Idee und einem Interesse immer die Idee auf die Nase fällt. Gäbe es diese Unterbrechung nicht, würden die existierenden Machtstrukturen ewig dauern. Die LINKE wird nicht durch gemeinsames Interesse an Machterhalt zusammengehalten. Ihre Stärken können nur sein: Solidarität, moralische Integrität, Entschlossenheit, nicht nachlassendes Bemühen.

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