»Ein Preis? Wird nicht allen gefallen«

Rainer Simon über den Goldenen Bären, Reisen nach Lateinamerika und das Abenteuer Film

  • Lesedauer: 7 Min.
Zu den herausragenden Filmen von Rainer Simon, Jahrgang 1941, geboren in Hainichen, gehören »Jadup und Boel«, mit Kurt Böwe, 1981 kurz vor der Premiere verboten, 1988 aufgeführt: einer der wichtigsten DEFA-Filme des letzten DDR-Jahrzehnts. 1992 und 2009 in Berlinale-Sonderreihen zu sehen. »Die Frau und der Fremde«, der 1985 den Goldenen Bären erhielt, kam nicht in westdeutsche Kinos, wurde auch nach dem Ende der DDR nicht im Fernsehen gezeigt. Ab 16.2. läuft er in der Retrospektive.
Rainer Simon
Rainer Simon

ND: Die 60 Jahre umfassende Berlinale-Retrospektive führt viele Arbeiten auf, die seit 1951 auf dem Festival liefen, darunter auch Ihr DEFA-Film »Die Frau und der Fremde«, der 1985 den Goldenen Bären erhielt. Schon während der letzten Berlinale wurde Ihr 1981 gedrehter »Jadup und Boel« gezeigt. Sind Sie gewissermaßen der letzte Aufrechte, der das DEFA-Fähnlein hochhält?
Simon: Na, ich weiß nicht. Auf jeden Fall freut es mich, zwei Mal hintereinander auf dem Festival vertreten zu sein. Gerade für »Jadup und Boel«, der in der DDR ja sieben Jahre lang verboten war, ist es eine Art später Genugtuung. Natürlich hoffe ich, dass in anderen Retrospektiven auch wichtige Filme meiner einstigen DEFA-Kollegen wieder ins öffentliche Bewusstsein gerückt werden.

Erinnern Sie sich noch an den Moment, als Sie erfuhren, dass »Die Frau und der Fremde« den Bären bekommt? Es ist der einzige DEFA-Film, dem dies gelang.
Am vorletzten Abend des Festivals kamen wir spät ins Hotel, und ich erhielt den Anruf eines Mitarbeiters der Hauptverwaltung Film. Gleich nachdem er mir die Nachricht vom Preis mitgeteilt hatte, fügte er hinzu: »Es wird aber einigen bei uns gar nicht gefallen, dass ausgerechnet du den gewinnst.« Ich traute der Sache nicht und rief in derselben Nacht Wolfgang Kohlhaase an, der Mitglied der Jury war und es mir bestätigte.

Wie war das Gefühl, auf der Bühne des Zoo-Palastes gefeiert zu werden?
Diese Berlinale war das erste bedeutende Festival, an dem ich teilnehmen durfte, man hatte mich vorher weder auf ein großes östliches noch westliches geschickt. Wir sahen uns eine ganze Reihe Filme an, in allen Sektionen, auch im Wettbewerb, und fanden, dass wir in diesem Kontext nicht schlecht aussehen. Ich habe den Triumph damals gar nicht so realisiert, er ist mir erst später richtig zu Bewusstsein gekommen.

Wer aus Ihrem Team durfte Sie nach West-Berlin begleiten?
Mein Kameramann Roland Dressel und der Dramaturg Andreas Scheinert. Meine Hauptdarstellerin Kathrin Waligura bekam eine Erlaubnis für zwei Tage; zur Preisverleihung war sie allerdings nicht anwesend, weil ihr so schnell kein neues Visum ausgestellt wurde. Ihre Partner im Film, Peter Zimmermann und Joachim Lätsch, bekamen keine Erlaubnis. Zwar hatte ich darum gebeten, aber es führte kein Weg rein. Dabei waren wir doch alle hungrig, Filme zu sehen, die nicht oder erst viel später in die DDR-Kinos kamen. Wir waren neugierig; eine Haltung, die ich mir bis heute bewahrt habe.

Ich staune, dass Ihre vorherigen Arbeiten »Till Eulenspiegel« (1975) oder »Das Luftschiff« (1982), mit denen die DEFA international hätte reüssieren können, niemals auf Festivals delegiert worden sind.
Doch, so war es. Hin und wieder sind meine Kinderfilme irgendwo gezeigt worden, aber ohne dass ich dabei sein durfte. »Das Luftschiff« wurde im gleichen Jahr gedreht wie Frank Beyers »Aufenthalt«, der für die Berlinale gemeldet worden war, aber wegen politischer Einsprüche aus Polen nicht laufen durfte. In der Lage versuchte ich, »Das Luftschiff« ins Gespräch zu bringen. Später las ich in meinen Stasi-Akten, dass das regelrecht boykottiert worden ist.

Hat Ihnen der Goldene Bär für Ihre weiteren Filmpläne bei der DEFA gewisse Freiräume und Sicherheiten verschafft?
Ich denke schon. Die erste Reaktion auf den Bären war zwar, dass DEFA-Direktor Hans Dieter Mäde meine Weiterbeschäftigung mit dem Stoff »Der Erlkönig« nach dem Roman von Michael Tournier stoppte, mit der Begründung, auf eine solche Weise dürften wir uns nicht mit dem Faschismus auseinandersetzen. Aber ich konnte »Wengler & Söhne« (1987) drehen und vor allem »Die Besteigung des Chimborazo« (1989) in Ecuador. – Später, nach dem Ende der DDR, hat mir der Preis allerdings überhaupt nichts mehr genutzt. Von meinen Spielfilmprojekten konnte ich kein einziges wichtiges mehr realisieren, obwohl ich es bei allen möglichen Produzenten versuchte, bei großen wie bei jungen, neuen. Ich bekam nie Geld. Das ging aber nicht nur mir so, sondern auch anderen, die Filme machen wollten, die nicht dem Unterhaltungsgenre angepasst waren.

Was waren das für Projekte, die Sie nach 1990 gern gemacht hätten, aber nicht realisieren konnten?
»Der Erlkönig«, den dann Volker Schlöndorff verfilmte. Später »Das Kassandramal« nach Aitmatow. Dazu den einen oder anderen Gegenwartsstoff, der sich mit dem beschäftigte, was nach dem Mauerfall in Deutschland passierte. Und Spielfilmprojekte in Südamerika.

Nun gehören Sie zu jenen DEFA-Regisseuren, die, obwohl ihnen die Gelegenheit zu Spielfilmen versagt blieb, nicht inaktiv waren. Sie kuratierten Ausstellungen, schrieben Bücher, inszenierten am Theater. Und Sie drehten Dokumentarfilme in Lateinamerika. Gerade eben kehrten Sie aus Mexiko und Ecuador zurück. Was haben Sie dort gemacht?
Am Goethe-Institut in Guadalajara leitete ich einen Workshop, der sowohl theoretische Kenntnisse vermittelte als auch eine praktische Übung beinhaltete, die Umsetzung einer Szene aus »Pedro Páramo« des mexikanischen Klassikers Juan Rulfo. Zu diesen Workshops, die vom Goethe-Institut ausgeschrieben werden, kommen sowohl filminteressierte Laien als auch Professionelle. Mein nächster Workshop, im März ebenfalls in Guadalajara, wird übrigens zusammen mit dem Talente-Campus der Berlinale organisiert. – Außerdem liefen in Mexiko »Die Frau und der Fremde« und »Jadup und Boel«. Das Erfreulichste ist aber, dass mir dort ein Filmprojekt angeboten wurde, mit einem indianischen Volk und womöglich wieder in Form einer Dokufiktion wie mein Film »Der Ruf des Faju Ujmu« (2003) mit den Chachi-Indianern.

Sie haben schon mehrfach mit indigenen Völkern gearbeitet. Was fasziniert Sie an deren Lebensweise und Kultur?
Zunächst ihr Verhältnis zur Natur. Dass in dieser indigenen Kosmovision der Mensch ein Teil der Natur ist. Er ist nicht, wie im Christentum, die Krone der Schöpfung – mit dem Resultat, dass er die Erde zerstört.

Hat sich Ihr Bewusstsein von Welt durch diese Begegnungen verändert?
Ja, es ist eine Alternative. Ich bin kein Christ. Ich verachte, was im Namen des Christentums an Schändlichkeiten in dieser Welt getan wurde und wird. Auch das marktwirtschaftliche System scheint mir auf Dauer nicht das System zu sein, das gut für die Menschheit ist. Im Gegenteil: Es wird die Welt zugrunde richten. Ob es überhaupt einen Ausweg gibt, weiß keiner.

Sind die indigenen Stämme bereit gewesen, sich Ihnen, einem Weißen, zu öffnen?
Es war erstaunlich, wie schnell wir in Kontakt kamen. Als wir zum Beispiel zu den Záparas in den Urwald kamen, wollten wir zunächst gar nicht drehen, aber sie forderten uns regelrecht auf, sofort den Film »Mit Fischen und Vögeln leben« (1998) zu beginnen. Bei den Chachi ging es darum, gemeinsam mit ihnen den Film zu entwickeln, von der Idee bis zum Drehbuch. »Der Ruf des Faju Ujmu« (2003) ist ein Film nicht über sie, sondern mit ihnen. So ähnlich soll es in Mexiko auch wieder werden.

Bei jedem Ihrer DEFA-Filme standen Ihnen Millionenbeträge zur Verfügung. Jetzt drehen sie oft nur mit ein paar tausend Euro. Empfinden Sie das als negativ?
Nein, das spielt keine Rolle. Man kann mit sehr viel Geld sehr schlechte Filme machen, das wird uns täglich bewiesen. Bei der DEFA standen mir Drehstäbe von fünfzig und mehr Leuten zur Verfügung, in Ecuador arbeiteten wir zu dritt! Das hat aber auch Vorteile. Ich bin befreit von dem ganzen Tross, muss operativer arbeiten. Das ist eine Erfahrung, die ich gern gemacht habe.

Interview: Ralf Schenk

BERLINALE 60kurz - Goldene Bären seit 1990:

1990: »Music Box« von Constantin Costa-Gavras (USA) und »Lerchen am Faden« von Jiri Menzel (Tschechosl.)
1991: »Das Haus des Lächelns« von Marco Ferreri (Italien)
1992: »Grand Canyon« von Lawrence Kasdan (USA)
1993: »Die Frauen vom See« von Xie Fei (China) und »Das Hochzeitsbankett« (Taiwan/USA)
1994: »Im Namen des Vaters« von Jim Sheridan (Irland)
1995: »Der Lockvogel« von Bertrand Tavernier (Frankreich)
1996: »Sinn und Sinnlichkeit« von Ang Lee (USA)
1997: »Larry Flynt – Die nackte Wahrheit« von Milos Forman (USA)
1998: »Central Station« von Walter Salles (Brasilien)
1999: »Der schmale Grat« von Terrence Malick (USA)
2000: »Magnolia« von Paul Thomas Anderson (USA)
2001: »Intimacy« von Patrice Chéreau
2002: »Chihiros Reise ins Zauberland« von Hayao Miyazaki (Japan) und »Bloody Sunday« von Paul Greengrass (Großbritannien)
2003: »In This World« von Michael Winterbottom (Großbritannien)
2004: »Gegen die Wand« von Fatih Akin (Deutschland)
2005: »U-Carmen« von Mark Dornford-May (Südafrika)
2006: »Esmas Geheimnis – Grbavica« von Jasmila Zbanic (Bosnien)
2007: »Tuyas Hochzeit« von Wang Quan'an (China)
2008: »Tropa De Elite« von José Padilha (Brasilien)
2009: »Eine Perle Ewigkeit« von Claudia Llosa (Peru)

Rainer Simon 2010 – noch einmal auf der Bühne des ehemaligen Festival-Kinos Zoo-Palast
Rainer Simon 2010 – noch einmal auf der Bühne des ehemaligen Festival-Kinos Zoo-Palast
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