Lecks im Dampfer Griechenland
Die Staatskrise war vorhersehbar – der Untergang aber droht nicht
Es gab in der an Tragödien reichen, neueren griechischen Geschichte Zeiten, in denen das Volk hoffen durfte, in denen sogar Diener der orthodoxen Staatskirche erleuchtet schienen. Man schrieb das Jahr 1970. Die seit 1967 mit eiserner Faust dirigierende Militärdiktatur hatte soeben den Höhepunkt ihrer Macht erreicht, als auf der Insel Kreta Irineos Galanakis, Erzbischof von Kastelli und Kissamou, dem wachsenden illegalen Widerstand gegen die Junta mit einer ökonomischen, völlig legal angelegten Glanztat beisprang. Er gründete in der Provinzhauptstadt Chanià die Volksaktiengesellschaft ANEK, eine Reederei.
Die Vorgeschichte ist schnell erzählt. Am 8. Dezember 1966 waren beim Untergang der »Iraklion« 241 Menschen auf dem Weg zum Festland im eiskalten Wasser der Agäis ertrunken. Die privat geführte Compagnie Typaldos hatte das überfüllte Schiff trotz Sturmwarnung auf die Reise geschickt. Auf hoher See durchbrach ein unvertäuter Lastwagen die Laderampe und rammte Mensch und Ladung in den Grund des Meeres.
Der Erzbischof umschiffte mit seiner Gründeraktion elegant die bis dahin florierende, korrupte Gewinngemeinschaft aus kriminellen Reedern und regierenden Militärs. Mehr als 3000 Bürger halfen ihm dabei. Sie kauften 356 000 Volksaktien und finanzierten so das erste Schiff der neuen Gesellschaft. Nur gebürtige Kreter durften Anteile erwerben. Irineos sorgte damit nicht nur für sichere Überfahrten nach Piräus, sondern drängte Unternehmen wie Typaldos und deren Seelenverkäufer aus dem Verkehr. Erst 1998 änderte die Gesellschaft die Statuten und bot ihre Aktien auf dem freien Markt der Athener Börse an. Sie landete danach dort, wo letztlich alle börsennotierten Unternehmen enden – in der Verfügungsmasse ausschließlich gewinnorientierter Anteilseigner und Spekulanten.
Chancen verspielt
Das ungewisse Schicksal des früheren Volksunternehmens ANEK mag in diesem milden Athener Vorfrühling als Beispiel dafür dienen, warum der Dampfer Griechenland schwer leckgeschlagen und – wieder einmal – dem Untergang nahe ist. Die Chance, ihn in ruhiges Wasser zu steuern, verspielten die Griechen 1974, als sie nicht den aus dem Exil zurückkehrenden Gerechten die Führung der Demokratie anvertrauten, sondern den in Westeuropa gern geduldeten, der Finanzwelt eng verbundenen Genehmen. Den ersten Premier Konstantinos Karamanlis, einen Mann der bürgerlichen Rechten, hatten die abtretenden Militärs noch selbst aus der Pariser Verbannung geordert. Sein Neffe gleichen Namens vollbrachte während seiner bis zum Oktober 2009 dauernden Amtszeit schließlich, was selbst der ausgefuchste Alte in seinem langen politischen Leben nicht ganz schaffte – das Land den Klienten der großen Parteien Nea Dimokratia und PASOK zur finalen Plünderung freizugeben.
Die Stimmung im Land ist schlecht. Obwohl an den vergangenen Wochenenden die Sonne schien, die Tavernen an den Stränden von Kap Sunion auch ihre dicksten Fische problemlos verkauften und der Krise noch nicht der allgemeine Mangel folgte. Das drastische Sparprogramm, mit dessen Ankündigung der neue Regierungschef Georgios Papandreou Brüssel und die Amtskollegen in den Hauptstädten Europas zu beruhigen gedenkt, hat den Griechen klargemacht, was aus ihnen geworden ist: Die Kraft des Bauernstandes, die im Weltkrieg den Widerstand gegen die deutschen Besatzer und im anschließenden Bürgerkrieg die Revolution gegen Churchills Armee, rechte Staatsgewalt und Kirche getragen hatte, ist in der Industrialisierung der Landwirtschaft verpufft. Landarbeiter sind heute Albaner, Syrer oder Bulgaren. Griechische Grundbesitzer sind nur noch Traktorfahrer, die dem Subventionsrhythmus der EU folgen. Sie protestieren nicht mehr gegen die Verhältnisse, sondern fordern höhere Zuschüsse.
Ähnliches gilt für den Staatsdiener, den Beamten. Er war und ist seit 60 Jahren Bevorteilter der staatlichen Klientelwirtschaft, ein Profiteur der Wahlarithmetik großer Parteien. All jene Regierungen, die ihn in der Vergangenheit mit der Vergabe eines noch so unnützen Postens als Wähler einkauften und belohnten, lassen ihn nun zurück. Die amtierende Regierung kennt ihn nicht einmal mehr. Diesbezügliche, im öffentlichen Raum geäußerte Fragen an den Apparat werden in Zukunft wohl eher mit dem Polizeiknüppel als mit Worten oder gar Versprechen beantwortet werden. Der seit dem vergangenen Mittwoch organisierte Protest gegen Papandreous vorerst nur angekündigte ökonomische Zwangsmaßnahmen – Einkommensverlust bei gleichzeitiger Steuererhöhung, Beschneidung der Sozialhaushalte, Streichung sämtlicher Vergünstigungen – ist deshalb in erster Linie eine Art präventiver Widerstand gegen die noch ausstehende physische Belehrung von Seiten der Staatsorgane. Selbstverständlich ist den Leuten nicht verborgen geblieben, dass ihr neuer Premier mit dem Rücken zur Wand steht und die zu erwartenden Knüppelorgien nichts anderes sein werden als Ausdruck politischer Hilflosigkeit.
Kleptomanen greifen zu
Nicht nur der hochschulgebildete Teil des Volkes hat längst eine Ahnung davon, dass in den Hochfinanzzentren von London, Frankfurt am Main oder New York gegen ihren schwachen Staat gewettet und mit diesen Wetten schwer Geld verdient werden könnte (oder schon verdient wird). Dass sie, die Griechen, in ihrer Gesamtheit und nach den Regeln des Marktes über die Verhältnisse gelebt haben, ist inzwischen wohl selbst den renitenten Staatsangestellten klar. Die in Berlin, Paris und Brüssel geäußerte Sorge, das Land könne seine finanziellen Schulden wohl nie und nimmer begleichen, ist allerdings – nicht nur in ihren Augen – lächerlich. Ein Staat geht selbst in der kapitalistischen Welt nicht pleite.
Die Befürchtungen, die Athener Ökonomen in diesen Tagen äußern, weisen auf ein anderes Problem hin: Müssen die Griechen damit rechnen, dass die Kleptomanen der Hedgefonds-Unternehmen sich nicht scheuen werden, gegen die wirtschaftliche Genesung ihres Staates zu spekulieren? Die Situation ist auch deshalb bedrohlich, weil die von den Großbanken eingesetzten CDS-Vertragsgeber (Credit Default Swaps), die neue Kredite oder Anleihen der Griechen wohl versichern müssten, sich zu 75 Prozent ausgerechnet in den Händen der Raubtierinstitute JP Morgan, Goldman Sachs und Deutsche Bank befinden. Würde nur einer dieser Akteure für hohen Gewinn und zum Wohl der Firma gegen die Griechen bieten, wäre die Regierung in Athen wohl nicht mehr handlungsfähig.
Führende Wirtschaftsexperten des Landes stellen daher zwei Fragen: die nach der (längerfristigen) Solidarität der europäischen Partner und die nach der überfälligen Regulierung der Finanzmärkte. Der Pariser Ökonom Frédéric Lordon hat diesen beiden Fragen seiner Kollegen in der jüngsten Ausgabe des Monatsblattes »Le Monde Diplomatique« eine wohlbegründete dritte, weitaus interessantere hinzugefügt: Und wenn man die Börsen einfach schlösse?
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