In Würde sterben dürfen

Psychiatrieprofessor Theo R. Payk über den schwierigen Umgang mit Leiden und Tod

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 6 Min.

Am 21. September 1939 injizierte der Arzt Max Schur dem schwer vom Krebs gezeichneten Sigmund Freud eine erhöhte Morphiumdosis. Freud, der daraufhin ins Koma fiel und zwei Tage später mit 83 Jahren starb, hatte seinen Freund Schur zuvor um diesen letzten Dienst gebeten. Denn er wollte nicht nur als selbstbestimmter Mensch leben, sondern auch als solcher sterben.

Heute würde man in einem solchen Fall von aktiver Sterbehilfe sprechen, über deren Zulässigkeit seit Jahren in Deutschland heftig gestritten wird. Nach einer 2008 durchgeführten Allensbach-Umfrage sind 58 Prozent der Deutschen der Meinung, dass man zumindest bei unheilbar Schwerkranken aktive Sterbehilfe gestatten solle. Viele äußerten sich dabei vermutlich pro domo. Denn die Vorstellung, das eigene Leben – geprägt von Schmerzen und Verfall – auf einer Pflege- oder Intensivstation zu beschließen, ängstigt die meisten Menschen.

Wie man annehmen darf, sind solche Ängste auch den Gegnern der aktiven Sterbehilfe nicht fremd. Sie befürchten jedoch, dass bei deren Legalisierung die Hemmschwelle gegenüber angeblich »gerechtfertigten« Tötungen kontinuierlich sinken könnte. Ein warnendes Beispiel hierfür liefert seit Jahren der australische Philosoph Peter Singer, der in seinem Buch »Praktische Ethik« die These vertritt, dass Lebewesen ohne IchBewusstsein, Sprachvermögen, Zeitgefühl und Gedächtnis keinen vollen Lebensschutz genießen sollten. Es sei daher prinzipiell zulässig, Föten bis zur 18. Schwangerschaftswoche zu töten, ebenso wie schwer demenzkranke Menschen, da auch diese, wie Singer schreibt, nicht als wirkliche Personen anzusehen seien.

Keine Frage, das Thema Sterbehilfe ist hochbrisant, und der Streit darüber hinterlässt nicht selten verletzte Gefühle auf beiden Seiten. Dass dies nicht notwendigerweise so sein muss, zeigt der ehemalige Bochumer Psychiatrieprofessor Theo R. Payk jetzt in seinem einfühlsam geschriebenen Buch »Der beschützte Abschied«, welches zugleich die wechselvolle Geschichte des Tötungsverbots nachzeichnet.

Dass bereits die alten Babylonier und Ägypter ein solches Verbot gesetzlich sanktioniert hatten, hält Payk für eine herausragende kulturelle Leistung, die später auch das Juden- und Christentum beeinflusste. »Du sollst nicht töten«, lautet bekanntlich das fünfte Gebot des Dekalogs, hinter dem sich die Idee verbirgt, dass Gott allein über den Tod seiner Geschöpfe bestimme. Niemand habe daher das Recht, das Leben eines anderen oder das eigene Leben zu beenden. Dieses Diktum, das die Deutsche Bischofskonferenz und der Rat der Evangelischen Kirchen Deutschlands 1996 noch einmal bekräftigten, gilt in ganzer Strenge auch in säkular verfassten Gemeinschaften. Und so wurde 1948 von den Vereinten Nationen (UNO) das elementare Recht auf Leben zum unveräußerlichen und unverhandelbaren Anspruch aller Menschen erklärt.

In der Geschichte gab es indes immer wieder Bestrebungen, das Tötungsverbot zu lockern. Nach heutiger Kenntnis war es der altgriechische Dichter Kratinos, der in einem seiner Stücke für ein leichtes Sterben ohne vorhergehendes Siechtum erstmals den Begriff der »Euthanasie« (Eu thanatos = guter Tod) gebrauchte. Doch schon bei Platon erfuhr dieser Begriff einen verhängnisvollen Bedeutungswandel. In seinem Entwurf eines idealen Staates (»Politeia«) erteilte der Philosoph den Ärzten nämlich die Erlaubnis, Kranke nicht weiter zu behandeln oder gar zu töten, wenn ihr Leiden unheilbar sei. Das geschehe zum Besten der betroffenen Menschen sowie zum Wohle des Staates, meinte Platon, dessen Auffassung übrigens auch Aristoteles teilte.

Zu einer gänzlich anderen Sicht der Dinge gelangte seinerzeit der griechische Arzt Hippokrates, nach dem der berühmteste Eid der Mediziner benannt ist. Darin heißt es: »Ich (der Arzt) werde niemandem ein tödliches Medikament geben, auch wenn ich darum gebeten würde, noch werde ich in dieser Hinsicht einen Rat erteilen.« Nicht wenige Ärzte rückten später von dieser Eidesformel ab. So sprach sich etwa Christoph Wilhelm Hufeland im Einzelfall für eine vorsichtige Gabe von Medikamenten zur Erleichterung des Sterbens aus, fügte aber hinzu, dass es die vornehmste Bestimmung des Arztes sei, einem todkranken Patienten bis zuletzt beizustehen.

Zum »Dammbruch« kam es nach dem Ersten Weltkrieg. 1920 bereits forderten der Jurist Karl Binding und der Psychiater Alfred Hoche in einer viel gelesenen Schrift die »Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens«. Im Dritten Reich wurde diese Forderung von willfährigen Nazi-Ärzten in die Tat umgesetzt, die unter anderem erb- und geisteskranke Menschen in eigens dafür geschaffenen Euthanasie-Anstalten ermordeten. Nach 1945 war das Thema Sterbehilfe deshalb in Deutschland tabu – bis 1973, als über 50 Prozent der Bundesbürger erklärten, ein »Gnadentod auf Wunsch« sei durchaus akzeptabel.

Zugleich häuften sich die Fälle von aktiver Sterbehilfe. 1984 besorgte der umstrittene Chirurg Julius Hackethal einer krebskranken Patientin Zyankali. Hingegen war die 79-jährige Bettina S., die mit Unterstützung des Hamburger Exsenators Roger Kusch 2007 Selbstmord beging, nicht einmal schwer krank. Sie befürchtete nur, ihr Leben in einem Pflegeheim beenden zu müssen.

Auch die »Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben« (DGHS) tritt seit Jahren dafür ein, die Beihilfe zur Selbsttötung eines unheilbar Kranken zu legalisieren, und stößt damit namentlich bei Ärzten auf heftigen Widerstand. Lediglich passive Sterbehilfe, die den bewussten Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen einschließt, ist mit vorheriger Zustimmung des Patienten erlaubt. Straflos bleibt auch, wer als Arzt den Tod eines sterbenden Menschen etwa durch die Gabe starker Schmerzmittel unabsichtlich beschleunigt. Die subjektive Lebensqualität des Patienten sei hier höher zu bewerten als die Lebensdauer, stellte der Bundesgerichtshof (BGH) dazu 1996 fest.

Eine Frage indes bleibt: Ist es wirklich human, einem Schwerkranken die gewünschte »Erlösung« von seinen Schmerzen zu verweigern? Hierauf mit einem klaren Ja oder Nein zu antworten, hält Payk für problematisch, auch eingedenk der Euthanasie-Verbrechen der Nazis, die übrigens schon in der Weimarer Republik ideologisch vorbereitet wurden. Außerdem ist nicht auszuschließen, dass sich hinter dem Argument, man könne die Leiden eines Sterbenden nicht mehr mit ansehen, nur eine Art Selbstmitleid verbirgt und mithin die Furcht, man müsse diesen Menschen womöglich betreuen oder gar pflegen.

Im Umgang mit schwerkranken Patienten setzt Payk daher vornehmlich auf den Ausbau von Hospiz- und Palliativeinrichtungen, deren vorrangiges Ziel darin besteht, die Lebensqualität jener Menschen so weit zu verbessern, dass ihnen ein weitgehend schmerz- und angstfreies Sterben möglich ist. Und natürlich ein Sterben in Begleitung von vertrauten Personen. Denn nichts ist schlimmer als ein einsamer Tod, den gerade in neuerer Zeit immer mehr Menschen erleiden.

In seinem Resümee verweist Payk auf die schlichte Tatsache, dass auch eine Tötung auf Verlangen, einmal vollzogen, unumkehrbar sei. Kein Irrtum lasse sich danach korrigieren, keine Fehlentscheidung rückgängig machen. Vor allem aber bliebe die Frage unbeantwortet, ob ein Patient, der etwa wegen unerträglicher Schmerzen aktive Sterbehilfe erbeten hat, dies noch getan hätte, wenn seine Schmerzen wieder erträglicher geworden wären. »Schwermütige Menschen äußern sehr häufig lebensmüde Gedanken, bitten sogar um den Tod«, weiß Payk aus eigener Erfahrung zu berichten. Aber er weiß auch, dass die meisten Menschen, die nach einem Selbstmordversuch gerettet werden, am Ende froh darüber sind, noch zu leben.

Theo R. Payk: Der beschützte Abschied. Streitfall Sterbehilfe. Kösel Verlag München, 224 S., 17,95 €.

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