Messen mit zweierlei Maß

  • Günter Benser
  • Lesedauer: 9 Min.
»Durchgesessene Zeiten« nennt Undine Kurth ihr originelles Möbelstück.
»Durchgesessene Zeiten« nennt Undine Kurth ihr originelles Möbelstück.

In einem von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur herausgegebenen zeithistorischen Lesebuch (besprochen in ND vom 24. 10. 2008) wird der Alltag in der DDR u.a. mit folgendem Satz charakterisiert: »Selbst die Aufzucht einer Kuh bekam eine politische Tiefendimension.« Da greift sich der gelernte Ossi an den Kopf. Obwohl – so falsch ist diese Aussage nicht. Nur – die Aufzucht einer Kuh hat heute überall eine politische Dimension. Sonst gäbe es die heftigen Auseinandersetzungen um Milchpreise und die Bauernblockaden nicht. Und damit sind wir bei einem Wesenszug der gegenwärtig dominierenden Be- und Verurteilung der DDR, wie sie gerade im Umfeld der überstrapazierten zwanzigsten Jahrestage über uns hereingebrochen ist: Es wird mit zweierlei Maß gemessen.

Wer sich nicht mit den Erscheinungsformen historischen Geschehens zufrieden gibt, sondern in deren Wesen einzudringen versucht, kann auf die Methode des Vergleichs nicht verzichten. Nur durch Vergleiche lässt sich die Frage nach dem Allgemeinen, dem Besonderen und dem Einzelnen historischer Strukturen und Prozesse beantworten. Das setzt aber voraus, dass mit nachvollziehbaren, begründeten Kriterien gearbeitet wird. Vergleiche können bewusst, aber auch unterschwellig gezogen werden, mit einer verinnerlichten Messlatte. In der dominierenden Geschichtsschreibung über die DDR ist diese Messlatte eine unkritisch reflektierte freiheitlich-demokratische Ordnung der BRD, für welche die DDR nur eine negative Kontrastfolie abgibt.

Niemand braucht die kritische Sicht auf den Staatssozialismus – oder wie immer wir diese Alternative zum real existierenden Kapitalismus benennen wollen – dringlicher als die sich formierende LINKE. Aber eine kritische Sicht auf die Vergangenheit wird vielen Zeitgenossen geradezu verstellt, wenn sie permanent erleben müssen, dass für die DDR andere Maßstäbe gelten als für die BRD.

Das Messen mit zweierlei Maß beginnt bei der Forschungsorientierung, bei der Lenkung der Forschungsmittel. Es beginnt an den Schaltstellen zwischen Geschichte und Politik, in der staatlich gelenkten Gedenkkultur, beim Aufgreifen historischer Themen durch die Medien. Vorexerziert wurde dem wissenschaftlichen Nachwuchs das Messen mit zweierlei Maß von der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland«.

Die deutsche Bundeskanzlerin hat dem russischen Präsidenten im August 2008 bei ihrer Stellungnahme zum georgisch-russischen Konflikt vorgehalten, dass in solchen schwerwiegenden Auseinandersetzungen die Schuld nicht nur auf einer Seite zu suchen sei. Für den deutsch-deutschen Konflikt in den Jahrzehnten des Kalten Krieges gilt diese grundsätzlich richtige Einsicht offenbar nicht. Wäre die Mehrheit des deutschen Bundestages ernstlich an Aufklärung und Aussöhnung interessiert gewesen, hätte sie eine Enquete-Kommission zum Thema »Deutschland im Kalten Krieg« einberufen. Diese hätte sich kritisch mit politischen Zielen und Praktiken der DDR auseinandersetzen können, aber eben nicht in dieser westdeutsche Verantwortung ausblendenden Einseitigkeit.

Pars pro toto sei hier auf den Umgang mit dem Bildungs- und Erziehungswesen der DDR im Abschlussbericht der Enquete-Kommission verwiesen. Im Lichte der Ergebnisse der PISA-Studien zeigt sich, dass das föderalisierte bundesdeutsche Schulwesen wenig Grund hat, überheblich auf die Schulsituation und die Resultate der Schulbildung in anderen Staaten – einschließlich der vergangenen DDR – herabzusehen. Der Bericht der Enquete-Kommission räumt »der Umerziehung in Spezialheimen und Jugendwerkhöfen«, von der in 41 Jahren DDR einige Tausend Jugendliche und Kinder betroffen waren, mehr Platz ein als der Polytechnischen Oberschule, die Millionen Schüler durchlaufen haben.

Wie solch ein Vorgehen auf die Geschichtsschreibung generell durchschlägt, sei an einigen Beispielen nachgewiesen. Ich habe hier nicht den unmittelbar politisch gesteuerten Umgang mit DDR-Geschichte im Blick. Ich beziehe mich auf einige Veröffentlichungen, die mir zum Rezensieren auf den Tisch gekommen sind. Das sind Bücher, die in vieler Hinsicht unser Wissen bereichern, weil sie in der Regel aus neu erschlossenen Quellen schöpfen. Allerdings kranken sie oft daran, dass den Autoren die Fähigkeit, vielleicht auch Bereitschaft, abgeht, ihren Gegenstand in größere gesamtdeutsche und internationale Zusammenhänge einzuordnen und sie zwischen der Sprache der Akten und der Wirklichkeit oft nicht zu unterscheiden wissen. Mitunter bekommen wir die DDR als ein Konstrukt vorgestellt, das in einem historisch-politischen Vakuum agierte.

Da behauptet zum Beispiel Chris Mögelin, der Begriff »Unrechtsstaat« diene »der Rationalisierung der Auseinandersetzung, das heißt der Versachlichung der Diskussion«. Aber selbst der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages hat auf eine Anfrage der Abgeordneten Gesine Lötzsch geantwortet: »Eine wissenschaftlich haltbare Definition des Begriffs ›Unrechtsstaat‹ gibt es weder in der Rechtswissenschaft noch in den Sozial- und Geisteswissenschaften.« Es gehe zumeist darum, »die politische Ordnung eines Staates, der als Unrechtsstaat gebrandmarkt wird, von einem rechtsstaatlich strukturierten System abzugrenzen und moralisch zu diskreditieren«. Folglich handelt es sich um einen politischen Kampfbegriff. Mögelin bringt das Kunststück fertig, die DDR anhand ihres Rechtssystems zu charakterisieren, ohne das Arbeitsrecht, das Familienrecht, das Zivilrecht, die in Konflikt- und Schiedskommissionen manifestierte Einbeziehung gesellschaftlicher Kräfte in die Rechtsprechung auch nur zu erwähnen. Das ist so, als wenn wir die BRD ausschließlich an den Notstandsgesetzen, an den Berufsverboten, an der juristischen Verfolgung der KPD und ihr nahestehender Organisationen oder am Ausspionieren persönlicher Daten der Bürger messen würden.

Ein anderes Beispiel. Jeglichen Respekt vor den Aufbauleistungen im Osten Deutschlands lässt ein Aufsatz über die Deutsche Reichsbahn vermissen. Dass sich hier das Schienennetz nach Kriegszerstörungen und Demontagen in einem verheerenden Zustand befand, weiß jeder, der es wissen will, und wird auch vom Autor Ralph Kaschka nicht unterschlagen. Doch was dann folgt, ist eine einzige Kette von Schuldzuweisungen an die SED-Führung. Es versteht sich von selbst, dass die Verantwortlichen der Reichsbahn auf eine Erneuerung des Gleisnetzes drängten. Und es ist auch nicht allzu schwierig nachzuvollziehen, dass sich aus gesamtwirtschaftlicher Sicht die Dinge schwieriger darstellten und nicht allen Forderungen entsprochen werden konnte. Ob da im Politbüro der SED mit hinreichender Weitsicht entschieden worden ist, steht auf einem anderen Blatt. Gleichwohl lässt sich die Spannungslage von gesamtwirtschaftlichen Erfordernissen einerseits und Anforderungen einzelner wirtschaftlicher Bereiche nicht einfach ignorieren. Kein einziges Wort, wie sehr die Wirtschaft der DDR unter der deutschen Teilung, vor allem unter der Abkopplung von der metallurgischen Industrie des Ruhrgebietes und unter der westlichen Embargopolitik gelitten hat, kein Nachdenken darüber, inwieweit der Verweis auf die Vorrangigkeit des Aufbaus einer eigenen Schwerindustrie begründet war.

Angesichts des Desasters der zur Bundesbahn gehörenden Berliner S-Bahn – und dies nicht in Jahren der Mangelwirtschaft, sondern zu Zeiten industrieller Überkapazitäten – oder des blamablen Bauskandals bei der Errichtung der Kölner U-Bahn sind die von der wirtschaftlichen Gesamtlage der DDR abstrahierende Anwürfe geradezu grotesk. Es stimmt, dass nach der »Wende« viel in die ostdeutsche Infrastruktur investiert worden ist, nicht zuletzt in das Schienennetz. Aber dann sollte bitteschön auch nicht verschwiegen werden, dass zahlreiche Regionalstrecken stillgelegt wurden und im Interesse der deutschen Autolobby der in der DDR stark genutzte, umweltfreundliche Güterverkehr per Schiene zu großen Teilen auf die Straße verlegt worden ist.

Es kann nicht überraschen, dass dieses Messen mit zweierlei Maß auch auf die Biografik durchgeschlagen hat. Mir liegen vier Honecker-Biografien vor, verfasst von historisierenden Journalisten, von denen nicht jeder Honeckers Handschrift zuverlässig zu entziffern versteht. Ihre Autoren Thomas Kunze, Jan N. Lorenzen, Norbert F. Pötzl, Ulrich Völklein sollten nicht über einen Kamm geschert werden. Wir stoßen auf bedenkenswerte, bezogen auf den jungen Hocker mitunter sogar einfühlsame politisch-psychologische Deutungen seiner Vita wie auch auf distanzierte Bewertungen des Honecker-Prozesses. Aber zwei grundsätzliche Einwände treffen auf alle Biografen zu:

Erstens negieren sie weitgehend die realen Umstände, unter denen Honecker zu wirken hatte. Zweitens verzichten sie darauf, tiefer in seine Gedankenwelt einzudringen. Im Unterschied zu herausragenden Biografien politischer Persönlichkeiten, drückt man sich im Fall Honecker vor der intellektuellen Herausforderung, ideengeschichtliche Grundlagen, Beweggründe und Motivationen der DDR und ihrer Repräsentanten wenigstens ansatzweise verstehen zu wollen.

Als Honecker auf dem IX. Parteitag der SED verkündete »Die Macht ist das allererste«, hatte er das auch so gemeint. Aber wenn Biografen Honeckers Verhältnis zur Macht ausschließlich oder vorrangig aus persönlichem Karrierestreben heraus erklären und sich nicht die Frage stellen, ob es nicht auch für ihn ein Ziel und einen Zweck des Machtgebrauchs gab, der über persönliche Machtgelüste hinausging, werden sie seiner Persönlichkeit nicht gerecht. Um das festzustellen, muss man kein Honecker-Fan sein.

Es ist offensichtlich – wenn die DDR als Ganzes mit einem nur auf sie zugeschnittenen negativen Maß gemessen wird, dann kann auch die damit verbundene Biografik nur einseitig ausfallen. Und dann kommen kuriose Ungereimtheiten dabei heraus. Da wird Honecker schon 1947 als Sprachrohr der Sowjets in die erste Reihe der ostdeutschen Politprominenz gestellt. Da steht im Untertitel »Eine deutsche Biografie«, aber die weichenstellenden Auseinandersetzungen um die deutsche Frage der 40er und 50er Jahre werden ausgeblendet. Da wird über die »Grundrechte der jungen Generation«, über das Jugendförderungsgesetz der frühen DDR, über das FDJ-Verbot in der BRD – ohne Zweifel prägende Ereignisse im Leben Honeckers – einfach hinweggeschrieben.

Der hier demonstrierte Umgang mit Geschichte ist allerdings keine nur auf die DDR bezogene Praxis. Hier offenbart sich die Mentalität vermeintlicher Sieger der Geschichte, wie sie besonders gegenüber der Dritten Welt in Erscheinung tritt. Darauf hat der uruguayische Schriftsteller Eduardo Galeano sehr nachdrücklich hingewiesen. Mag jeder von Wladimir Putin halten, was er will, aber wenn dieser am Umgang des Westens mit Russland beziehungsweise der UdSSR kritisiert, »dass sich mit der Entstellung der Geschichte häufig jene befassen, die doppelte Standards auch in der Gegenwartspolitik anwenden«, dann hat er zweifellos recht.

Solcherart Umgang mit Geschichte steht echtem Erkenntnisgewinn entgegen. Eine geschichtliche Realität wie die DDR (und übrigens auch die alte Bundesrepublik) lässt sich nicht einfach von ihrem Ende her interpretieren, sondern muss in ihrem Werden und Vergehen aus den geschichtlichen Umständen heraus erklärt werden, und zwar in ihrer historisch-zeitlichen Dimension (und diese reicht nicht nur hinter das Jahr 1949, sondern auch hinter das Jahr 1945 zurück), in ihrer deutsch-deutschen Dimension, schon deshalb, weil die DDR in vielen Situationen und Entscheidungen weit mehr reagiert als agiert hat, und in ihrer internationalen Dimension, weil nur so erhellt werden kann, inwieweit sich beide deutsche Staaten als Geschöpfe und Agenten der Siegermächte durch die Geschichte bewegt haben. Die Forderung nach ausgewogener Bewertung ist kein Plädoyer für Duldsamkeit gegenüber Verwerfungen, Gebrechen und Schandtaten ostdeutscher Geschichte, auch nicht für ein gegenseitiges Aufrechnen.

Die eigentliche Schwierigkeit, der sich jeder Historiker stellen sollte, besteht jedoch in der proportionierten Bewertung der Relationen zwischen Erfolgen der DDR und deren Akzeptanz in der Bevölkerung einerseits und den Deformationen mit ihren historisch-genetischen Ursachen, deren äußeren und inneren Rahmenbedingungen sowie individuellen Verantwortlichkeiten. Die DDR lässt sich nicht mit einer Sichtweise begreifen, die nur oder weitgehend auf ihr politisches System fokussiert ist. Die DDR war mehr als das politische System, mehr als Partei, Staat und Staatssicherheitsdienst. Auch Erklärungen, die darauf hinauslaufen, als ob alles, was die DDR an Akzeptablem, Bewahrungswürdigen oder gar Zukunftsweisenden hervorgebracht hat (soweit so etwas überhaupt respektiert wird), sei den Trägern der Macht abgerungen worden oder in Nischen entstanden, entsprechen nicht der Wirklichkeit. Es sollte stets genau hingeschaut werden, wie sich Geplantes, Organisiertes, Spontanes und Widerständiges zu einander verhalten bzw. ineinander gegriffen haben.

Auch ist es geboten, die Geschichte der DDR nicht als etwas absolut Abgeschlossenes zu betrachten, sondern über ihr Einwirken auf Gegenwart und Zukunft nachzudenken, denn Ostdeutschland wird auf unbestimmte Zeit als eine relativ eigenständige sozialkulturelle Makroregion in diesem Deutschland fortexistieren und auf die gesamte Bundesrepublik einwirken.

Einen ausführlicheren Beitrag von Prof. Günter Benser zum Thema findet sich in dem dieser Tage erschienenen Band »Bilder und Zerrbilder« (Karl Dietz, 20 €).

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