Ein Krisengipfel gegen Rechts

»Gesicht zeigen!« zieht nach zehn Jahren Bilanz / Zahlen rechter Straftaten steigen weiter / Neue Anschläge in Zossen

  • Jörg Meyer
  • Lesedauer: 3 Min.
Seit Gründung des Vereins »Gesicht zeigen! Für ein weltoffenes Deutschland« vor zehn Jahren hat sich die Zahl der nazistischen Straftaten nahezu verdoppelt. Lokale Initiativen wie »Zossen zeigt Gesicht« gelten vielerorts als Nestbeschmutzer. Dort schmierten Nazis wieder Hakenkreuze und sprachen eine Morddrohung gegen ein Initiativenmitglied aus.

Alle 26 Minuten eine rechtsmotivierte Straftat, mehr als 16 000 im Jahr 2009. 768 davon waren Gewalttaten, mindestens 658 Menschen wurden verletzt. Von insgesamt 8269 ermittelten Straftätern wurden 278 vorläufig festgenommen, ganze 19 von ihnen landeten in Untersuchungshaft. Seit Jahren steigen die Zahlen kontinuierlich an und haben sich zwischen 2001 (10 054) und 2008 (20 422) verdoppelt.

Zehn Jahre nach Gründung des Vereins »Gesicht zeigen! Für ein weltoffenes Deutschland« hat dessen Vorsitzender Uwe-Karsten Heye am Montag Bilanz gezogen. Das Auftreten der Neonazis habe sich grundlegend geändert. Der Glatzkopf mit den Springerstiefeln sei passé, sagte Heye. Die Nazis von heute gäben sich revolutionär, erlebnisorientiert und modern und agierten in der Mitte der bürgerlichen Gesellschaft. Der NPD sei es gelungen, sich bei den Kommunalwahlen 2009 auf über 300 Sitze in zu steigern. An der menschenverachtenden Ideologie habe sich jedoch nichts geändert. Seit 1989 töteten Nazis mindestens 149 Menschen.

Es seien die gesellschaftlichen Bedingungen selber, die Rechtsextremismus hervorbrächten, sagte Heye. »Turboabitur« und immer höherer Leistungsdruck sowie die Schließung von Jugendclubs und kulturellen Einrichtungen gerade im Osten seien dafür nur zwei Beispiele. »Wir sind dabei, unseren Kindern die Jugend zu stehlen«, so Heye. Dort, wo bei Kultur oder Jugend eingespart werde, setze die NPD an. Heye forderte angesichts der noch immer steigenden Zahlen einen gemeinsamen »Krisengipfel« von Politik, Wirtschaft und Kulturträgern. Um die Voraussetzungen dafür »auszutrocknen«, dass »Erlösungsfantasien« entstünden, sei eine gesamtgesellschaftliche und dauerhafte Anstrengung vonnöten.

Ein anderes Problem sei es, dass lokale Initiativen gegen Rechts oft als »Nestbeschmutzer« diffamiert würden, sagte Jörg Wanke, Sprecher der 2009 gegründeten Initiative »Zossen zeigt Gesicht«. Die Zossener Bürgermeisterin spreche nicht mehr mit ihm. »Sie hat Angst, dass das Image der Stadt beschädigt wird.« Der Initiative sei auch vorgeworfen worden, sie ziehe den Rechtsextremismus erst an. Aber genau das Gegenteil sei der Fall. Das positive Zeichen, das man aussenden könne, sei, dass Zossen sich aktiv gegen Rechtsextremismus wehre, so Wanke.

In der brandenburgischen Kleinstadt hatte ein junger Neonazi im Januar das einen Monat zuvor von der Initiative eröffnete Haus der Demokratie angezündet und es damit komplett zerstört. Am Wochenende beschmierten Neonazis mehrere Stolpersteine im Zentrum mit Hakenkreuzen und hinterließen am Laden eines Initiativenmitglieds die eindeutige Drohung »Du stirbst bald Hagen«.

»Die Politik des Weggucken ist nicht nur ein Problem in Zossen. Das gibt es überall«, ergänzte Heye. Der Journalist Ulrich Wickert, der »Gesicht zeigen!« von Beginn an unterstützt, erzählte, dass er 1969 bei Recherchen über einen Schlägertrupp der NPD ein Zeltlager der neonazistischen und 1994 verbotenen »Wiking Jugend« entdeckt hatte. Nachdem Nazis eine Kamera zerstörten, habe er bei der lokalen Polizei Anzeige erstattet. Dort habe man ihm gesagt: »Die treffen sich hier seit zehn Jahren, nie gab es Ärger – bis Sie kamen.« Das Verfahren sei eingestellt worden. »Und das ist auch oft heute noch das Problem«, sagte Wickert.

»Gesicht zeigen!« wurde im Jahr 2000 nach eine Reihe von brutalen Naziübergriffen gegründet. Anlässlich des Brandanschlags auf eine Synagoge in Düsseldorf rief der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) den »Aufstand der Anständigen« aus. Bis 2006 stellte die Bundesregierung beispielsweise für Programme gegen rechte Gewalt oder Aussteigerprogramme für Neonazis rund 52 Millionen Euro zur Verfügung, um die Zivilgesellschaft zu stärken. »Viel zu früh«, kritisierten Experten, wie der Rechtsextremismusforscher Wilhelm Heitmeyer, als Civitas, das sich speziell gegen rechte Tendenzen in den neuen Bundesländern richtete, im Jahr 2006 planmäßig auslief .

Heye nannte am Montag 23 Milliarden Euro als von Bildungsexperten ermittelte Zahl, um dem Rechtsextremismus langfristig und gesamtgesellschaftlich etwas entgegenzusetzen. Mehr Lehrer, Sozialpädagogen, bessere Bildung und Ausbildung seien zentrale Instrumente. »Wenn sich nicht bald etwas tut, sitzen wir in zehn Jahren genauso wieder hier«, sagte Heye. Und wenn diese Erkenntnis nicht auch bald bei Bundesfamilienministerin Köhler (CDU) ankommt, könnte er Recht behalten.

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