Die vergessene Häftlingsrevolte

Heute wird in Bautzen an den Aufstand von Inhaftierten im »Gelben Elend« vor 60 Jahren erinnert

  • Marius Zippe, epd
  • Lesedauer: 4 Min.
»Wir haben Hunger!«, »Wir wollen nicht verrecken!«, »Wir rufen das Rote Kreuz!«: Am 31. März 1950 überschlagen sich die Emotionen in der Haftanstalt Bautzen innerhalb kürzester Zeit zum zweiten Mal. In dem mit 6000 Gefangenen völlig überbelegten Gefängnis, das im Volksmund auch »Gelbes Elend« genannt wird, machen viele Insassen in Sprechchören auf ihre katastrophale Lage aufmerksam.

Sie hängen Bettlaken aus den Fenstern und stehen auf den Dächern von Baracken. Ihre Hilferufe sollen bis weit in die Stadt gedrungen sein. »Es war der größte und öffentlichkeitswirksamste Häftlingsaufstand in der DDR«, sagt Cornelia Liebold. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Gedenkstätte Bautzen, wo am Mittwoch zum 60. Jahrestag der Revolte eine Gedenkveranstaltung geplant ist.

Der Revolte, die auch der 2007 gestorbene Schriftsteller Walter Kempowski als Häftling miterlebte, ging im Februar 1950 die Übergabe der Gefangenen von der sowjetischen Besatzungsmacht an die DDR-Behörden voraus. Die letzten sowjetischen Speziallager im Osten Deutschlands wurden geschlossen. Neben NS-Tätern saßen dort politische Häftlinge ein, die gegen die Besatzungsmacht aufbegehrt hatten oder willkürlich gefangen genommen wurden.

Ungewisse Zukunft

Die Verbüßung der oftmals 25-jährigen Strafen war lebensgefährlich. Wegen der schlechten Haftbedingungen starben im Speziallager von 1945 bis 1950 rund 3000 Häftlinge an Krankheiten wie Tuberkulose oder an Unterernährung. Mit der Übergabe des Gefängnisses an die DDR-Volkspolizei verbanden sich für die Insassen zunächst große Hoffnungen. »Wir gingen davon aus, dass die deutschen Behörden die irrsinnigen Strafen überprüfen und uns bald entlassen würden«, sagt der einstige Häftling Harald Knaußt.

Der 81-Jährige wurde wegen angeblicher Gründung einer Terrororganisation verurteilt. Er wohnt in Burgdorf bei Hannover und wird heute in Bautzen als Zeitzeuge berichten. Knaußt erinnert sich, dass auch die DDR-Behörden alle Fragen zur Zukunft der Häftlinge unbeantwortet ließen. Zudem stand die Volkspolizei vor einem massiven Versorgungsproblem. »Die Suppen wurden dünner, die Brotrationen kleiner«, sagt er. Eine Resolution blieb ohne Antwort.

In dieser gereizten Stimmung beschlossen die Gefangenen für den 13. März 1950 einen ersten Hungerstreik. An den Fenstern versammeln sie sich zu Sprechchören. Die Volkspolizei greift nicht ein. Für Beruhigung sorgt eine sowjetische Delegation, die Verbesserungen ankündigt. Allerdings ändert sich nichts und zweieinhalb Wochen später revoltiert ein großer Teil der Gefangenen erneut.

Doch beim zweiten Mal findet der Drang nach Selbstbehauptung ein jähes Ende. Bewaffnete Volkspolizisten marschieren in den Höfen auf. Später stürmen sie die Häftlingssäle mit jeweils bis zu 400 Gefangenen und knüppeln los. »Ihr habt nach dem Roten Kreuz geschrien, wir schlagen euch eines.« An diesen zynischen Ausspruch erinnert sich der wegen »Spionage« verurteilte Ex-Häftling Joachim Gringmuth. Der 84-Jährige wohnt in Essen und wird zum Jahrestag des Aufstands ebenfalls nach Bautzen reisen.

Unerfüllte Hoffnungen

Gringmuth gehört zu jenen, die durch ein Spalier prügelnder Polizisten getrieben werden. Eigentlich sei schon wieder Ruhe eingekehrt gewesen, sagt er. Doch dann seien urplötzlich Polizisten in den Saal eingedrungen und auf die Häftlinge losgegangen. Gringmuth kommt mit blauen Flecken davon. Es gibt aber auch Berichte über Knochenbrüche, ausgeschlagene Zähne sowie schwere Kopf- und Wirbelsäulenverletzungen bei anderen.

»Es war das Ende unserer Hoffnungen«, sagt Harald Knaußt. Für die Häftlinge, von denen viele erst Jahre später entlassen werden, bringen die Folgemonate dennoch Erleichterungen. Sie dürfen in bestimmten Zeitabständen Besuch und Pakete erhalten. Auch im Westen erfährt die Öffentlichkeit von der Revolte. Zwei Briefe werden aus dem Gefängnis geschmuggelt und an Herbert Wehner geleitet. Er trägt daraus auf einem SPD-Parteitag 1950 in Hamburg vor. Auch das »Hamburger Echo« berichtet am 15. Mai 1950 auf seiner Titelseite über die Haftbedingungen in Bautzen.

Dennoch ist der Häftlingsaufstand in der Gegenwart kaum noch im Bewusstsein. Harald Knaußt, der auch Mitglied im Bautzen-Komitee ist, hat zum Gedenktag ein Plakat mit der Überschrift »Der vergessene Aufstand« entworfen. Wenn es Hunderte Tote und nicht nur Verprügelte gegeben hätte, dann wäre die Revolte wohl bekannter. »Für uns ist der runde Jahrestag jetzt die letzte Gelegenheit, um in die Öffentlichkeit zu kommen«, sagt er.

Die Gedenkveranstaltung in der Gedenkstätte an diesem Mittwoch beginnt um 19 Uhr. Geplant sind ein Vortrag, eine Filmvorführung sowie Zeitzeugenberichte.

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