Gern wär' ich wieder unsichtbar

Zur Seele: Erkundung mit Schmidbauer

  • Lesedauer: 4 Min.
Nicht alle Missbrauchsopfer verkraften die Öffentlichkeit. Plädoyer für einen vorsichtigen Umgang.
Dr. Wolfgang Schmidbauer arbeitet als Psychoanalytiker und Autor in München
Dr. Wolfgang Schmidbauer arbeitet als Psychoanalytiker und Autor in München

Zu den Erscheinungen am Rand der Skandale um sexuellen Missbrauch in Schulen und Internaten gehört die Explosion der Delikte, sobald in den Medien über sie berichtet wird. Es handelt sich um keine reale Zunahme, sondern um Veränderungen im Bereich der so genannten Dunkelziffer: Betroffene, die bisher im Dunkel blieben, treten ans Licht; ihr Erscheinen bewegt andere Opfer, dasselbe zu tun. Plötzlich stehen Eliteinternate im Regen.

Was verdrängt wurde, will ans Licht – aber es wäre nicht verdrängt worden, wenn es nicht auch starke Gründe gäbe, das Licht zu meiden. Was geht in Menschen vor, die jahrzehntelang ein Missbrauchsschicksal in sich tragen? Sie versuchen, es zu vergessen, aber es gelingt ihnen nicht. Wenn sie von depressiven Stimmungen überfallen werden, wenn sie angesichts einer Beziehungskrise oder eines Konflikts im Beruf darüber nachdenken, was aus ihnen geworden ist und was vielleicht aus ihnen hätte werden können – dann tauchen die Gespenster der Vergangenheit auf. Die Gefühle schwanken zwischen Selbstanklage und Hass auf den Täter, zwischen dem Wunsch nach Gerechtigkeit und der Angst, bloßgestellt zu werden, über Peinliches berichten zu müssen, der Machtlosigkeit und dem Ausgeliefertsein wieder zu begegnen, die zu jeder Kindheit gehören, eine traumatisierte aber geradezu auffressen können.

Wenn nun einem Täter oder der Organisation, die er vertritt, endlich öffentlich vorgeworfen wird, was bisher aus Scham verschwiegen wurde, ermutigt das die Eingeschüchterten, sich zu dem zu bekennen, was geschehen ist.

Leider haben solche Veröffentlichungen nicht durchweg wohltätige Folgen. Der Therapeut begegnet immer wieder Opfern, die es für einen gravierenden Fehler halten, dass sie die Öffentlichkeit in einen bisher wohl verwahrten Bereich ihrer Vergangenheit eindringen ließen. »Am liebsten wäre ich wieder unsichtbar«, sagte mir einmal eine missbrauchte Frau, die während einer Familientherapie-Ausbildung über ihre Vorgeschichte erzählt hatte. Sie hatte erleben müssen, dass ihr Trauma in Gruppenkonflikten als Argument gegen ihre Urteilsfähigkeit eingesetzt wurde.

Andere haben sich der Illusion hingegeben, dass nach Bekenntnis und Anklage der Täter einer gerechten Strafe zugeführt wird und sie von ihren Ängsten, Scham- und Schuldgefühlen wirksamer befreit sind als durch Schweigsamkeit und Verdrängung. Aber die Täter werden nicht zuverlässig aufgefunden und bestraft. Und die Strafe, wenn sie erfolgt, hat ganz und gar nicht verlässlich die erwarteten Wirkungen.

Was ich an Wissen allein besitze und mit niemandem teile, kann ich kontrollieren; was meine Umwelt weiß, kann sie sich zunutze machen und es gegen mich wenden. So wird beispielsweise der Eheberater zunächst finden, dass Liebende einander über einen Missbrauch in ihrer Vorgeschichte aufklären sollten. Wenn er dann allerdings mit Paaren arbeitet, in denen der »gesunde« dem »traumatisierten« Partner attestiert, es liege nur an ihm, wenn die Beziehung missrate, wird er sich darüber nicht mehr so sicher sein.

Es kann durchaus sein, dass neue Wunden heftiger schmerzen als alte Narben. Die Opfer hoffen auf Gerechtigkeit, auf Wiedergutmachung. Diese sind leicht versprochen und schwer zu verschaffen, wenn kindliche Erlebnisse nach so langer Zeit einer Beweisprüfung unterzogen werden sollen. Manche Opfer erschrecken sogar vor einer Hetzjagd auf Täter, die in ihren Erinnerungen doch auch gute Züge hatten.

Der vermeintliche Makel, den das Opfer mit dem Missbrauch verknüpft, sitzt tiefer, als Vernunft und Justiz jemals reichen können. Warum ist gerade mir etwas geschehen, was anderen erspart blieb? Habe ich nicht doch etwas falsch gemacht, obwohl alle beteuern, ich sei Opfer, schuldig allein der Täter?

Es ist wohltätig, Verletzungen vergessen zu können, und schmerzlich, sich an sie zu erinnern. Psychotherapeuten decken nicht leichtfertig traumatische Erlebnisse auf, wenn sie ihr Handwerk verstehen. Sie wissen wohl, dass es sich immer um eine Zumutung handelt, wenn Menschen über etwas sprechen sollen, was sie lieber verschweigen. Sie bestehen darauf, dass der Raum, in dem das geschieht, geschützt ist. Opfer in einen Rechtsstreit zu locken, den sie dann nicht verkraften, wiederholt den Missbrauch in der wohlfeilen Empörung über ihn.

Es wird nie ein Guthaben geben, von dem wir in Gestalt von Freude abheben können, was uns in unserer Kindheit angetan wurde. Die Opferfantasie lässt uns am Schalter einer imaginären Bank stehen und hoffen, dass unsere Schecks endlich eingelöst werden. Die gegenwärtigen Vorschläge, Verjährungsfristen aufzuheben und eine spezielle Pflicht zum Schadensersatz einzurichten, verschaffen Politikern populistischen Gewinn, Anwälten Kundschaft – und den Opfern unter Umständen neues Leid. Gegenüber Menschen, die ihre Tugend vor allem durch Forderungen nach strengeren Strafen beweisen wollen, ist Misstrauen angebracht.

Wer den Opfern wirklich wohl will und nicht danach strebt, sich auf ihre Kosten zu profilieren, der sollte auf ihre leisen Stimmen hören und nicht an ihrer Stelle schreien.

Über sexuelle Traumatisierungen veröffentlichte unser Autor 2008 im Rohwohlt-Verlag das Buch »Die Rache der Liebenden«.

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