Die Erosion der Mitte

  • Harry Nick
  • Lesedauer: 3 Min.
»Das Vermögen der Reichen wächst ebenso rasant wie die öffentlichen Schulden.«
»Das Vermögen der Reichen wächst ebenso rasant wie die öffentlichen Schulden.«

Die politische Schizophrenie nimmt groteske Züge an, wird von Politik und Medien mühsam kaschiert und von Vielen immer noch nicht durchschaut: Die Neoliberalen erklären zwar die Förderung der »Mitte« zu ihrem wichtigsten Anliegen; real sind sie aber die Hauptakteure der sozialen Polarisierung, der Erosion dieser Mitte.

Die Nachkriegsjahrzehnte waren in der westlichen Welt eine Zeit relativ hohen, durch Rezessionen kaum getrübten wirtschaftlichen Aufstiegs, der Vollbeschäftigung, der Ausbildung eines Systems sozialer Sicherungen. Es war dies nach den Worten des englischen Historikers Eric Hobsbawm das »Goldene Zeitalter« des Kapitalismus. Die Reichen wurden zwar auch reicher, die Armen aber nicht zahlreicher und nicht ärmer. Das wichtigste soziale Phänomen war die Ausbildung und Vergrößerung der »Mitte«, einer relativ wohlhabenden Bevölkerungsmehrheit.

Gewiss waren der gewaltige konsumtive Nachholbedarf und sein Abflauen, der rasante Aufstieg des fossilen Zeitalters und die Erdöl-Preissprünge in den siebziger Jahren, die neue technologische Revolution und ihr Gleiten in die Normalität wichtige Ursachen für Anfang und Ende dieses Goldenen Zeitalters. Seine Hauptursache aber war die sozialökonomische Herausforderung durch den realen Sozialismus. Mit dessen absehbarer wirtschaftlicher Niederlage kam dann Ende der 1970er/Anfang der 1980er die Wende im Westen. Hobsbawm bezeichnete das als »neues Krisenzeitalter« mit Wirtschaftskrisen und Massenarbeitslosigkeit. Der Kapitalismus hatte sich im Goldenen Zeitalter wohl bis aufs Äußerste zum Sozialen hin verbiegen lassen und kehrte nun zur Normalität zurück.

War die Ausbreitung einer sozialen Mitte das herausragende Merkmal des Goldenen Zeitalters, so ist die Erosion derselben das Merkmal des neuen Zeitalters. Der US-amerikanische Ökonom Lester C. Thurow war einer der ersten, die das Phänomen beschrieben. In seinem Buch »Die Zukunft des Kapitalismus« (1996) zeigte er, wie dieser Prozess sich vollzieht: In den Jahren 1973 bis 1992 sanken die Reallöhne in den USA im untersten Einkommensfünftel um 23 Prozent, im höheren Fünftel um 21 Prozent, im darauf folgenden Fünftel um 16 Prozent, im nächsten Fünftel um 10 Prozent und im Fünftel mit den höchsten Einkommen stiegen sie um 10 Prozent.

Das Vermögen der Reichen wächst ebenso rasant wie die öffentlichen Schulden. Laut einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung gehörten 2007 27 Prozent der Bevölkerung zu den vermögenslosen Armen, den reichsten 10 Prozent der Bevölkerung gehörten 63 Prozent des Vermögens. Dazwischen liegt die soziale Mitte mit 63 Prozent der Bevölkerung und 37 Prozent des Vermögens. Bemerkenswert auch: Das durchschnittliche Vermögen der Westdeutschen ist mehr als drei Mal so hoch wie das der Ostdeutschen. Zudem sank das Vermögen letzterer von 2002 bis 2007 um zehn Prozent, das der Westdeutschen stieg um zwölf Prozent.

Der Irrtum der Neoliberalen, sich mit der Niederlage des realen Sozialismus nun eine entfesselte Kapital- und Marktlogik leisten zu können, kann nur verhängnisvolle Folgen haben. Die (potenziell verfassungsändernde) Zweidrittelmehrheit der sozialen Mitte, die von ihr getragene »Kultur der Zufriedenheit« war die Gewähr der relativen politischen Stabilität westlicher Demokratien. Angesichts der Erosion dieser Mitte kann man nur zu den Worten greifen, die Daniela Dahn für ihr neues Buches wählte: Wehe den Siegern! Wehe uns allen, wenn wir Merkel und Westerwelle gewähren lassen.

In der wöchentlichen ND-Wirtschaftskolumne erläutern der Philosoph Robert Kurz, der Ökonom Harry Nick, die Wirtschaftsexpertin Christa Luft und der Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel Hintergründe aktueller Vorgänge.

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