Trauer, Hoffnung und Stolz der Kurden

Newroz-Feiern im Südosten der Türkei: Vielstimmige Forderung nach Beendigung der Repressionen

  • Martin Dolzer
  • Lesedauer: 4 Min.
Die ersten Frühlingstage in den kurdischen Provinzen der Türkei. Noch bedeckt Schnee die bergige Landschaft. Es ist die Zeit, da überall in dieser Region das Frühjahrsfest Newroz gefeiert wird.

Wir fahren in einem Kleinbus nach Bugulukaynak (kurdisch Kel). 130 Kilometer nördlich der zweitgrößten kurdischen Stadt Van liegt das Dorf nahe der türkisch-iranischen Grenze. Mazlum, einer unserer Begleiter, erzählt vom legendären Ursprung des Newroz. Der Schmied Kawa soll im Jahre 612 v. u. Z. das Volk mit einem einzigen Schwerthieb von der Tyrannei des Despoten Dehok befreit haben. Seither wird Newroz in Kurdistan als Fest der Befreiung und des Friedens gefeiert.

Die Landschaft um Bugulukaynak strahlt eine fast unwirkliche Ruhe Pferde und Schafe weiden friedlich auf Grasflecken, von denen die Sonne den Schnee geleckt hat. Dorfbewohner erzählen jedoch ganz und gar Unfriedliches: In einer nahen Schlucht war es, wo türkische Sondereinheiten am 7. Oktober 2009 drei Jugendliche hinrichteten. Paramilitärische Jan-darmas hatten sie während einer Razzia festgenommen und dem Militär übergeben. Zwei der Hingerichteten waren PKK-Guerilleros, der dritte, der 17-jährige Ibrahim Atabay, ein Gymnasiast aus dem Dorf.

Laut Augenzeugen waren die Jungen unbewaffnet. Die Militärs zertrümmerten ihnen die Schädel, die Leichen wurden von Kugeln durchsiebt. Einer der Soldaten, der das grausige Geschehen beobachtet hatte, berichtete anonym darüber: Die beiden Guerilleros hätten ihre Mörder vergebens gebeten, Ibrahim zu verschonen, der unschuldig sei.

Zur gleichen Zeit misshandelten Sicherheitskräfte auch Ibrahims Brüder in einem Haus der Familie. Einer befindet sich seither in Haft, ohne dass Anklage gegen ihn erhoben wurde. Vater Gafur Atabay, ein besonnener Endvierziger, war seit Jahren in der Partei für eine Demokratische Gesellschaft (DTP) aktiv und trat nach deren Verbot in die Partei für Frieden und Demokratie (BDP) über. Er erzählt, dass sich die Familie wegen der Errichtung eines Gedenksteins für ihren Sohn vor Gericht verantworten muss. Das Verfahren gegen seine Mörder wurde indessen eingestellt. Mehrmals wurden die Atabays und ihr Anwalt nach Ibrahims Tod von Sicherheitskräften bedroht. Eine der Schwestern hat ein trauriges, aber kraftvolles Gedicht geschrieben, in dem sie ihre Trauer beschreibt, den ungebrochenen Willen der Kurden und ihre Hoffnung auf Frieden.

Später erfahren wir, dass der Staat die Morde seiner Soldaten in der Region mit allen Mitteln zu vertuschen sucht. Die Straflosigkeit von Tätern mit Polizeibefugnissen wird auch von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch in einer Studie beklagt. Unweit der Grenzstadt Caldiran liegt der Berg Ararat. Die PKK hat in diesem Gebiet starken Rückhalt. Bei Militäroperationen gegen die Guerilla werden bisweilen ganze Dörfer niedergerissen und die Bewohner werden kollektiv mit Lebensmittelembargos belegt.

Kein Wunder, dass bei den Newroz-Feiern in Caldiran, Hakkari und Semdinli, die wir besuchen, immer wieder – von Rednern, auf Spruchbändern und in Chören – die Beendigung der Militäroperationen gefordert wurde. Das Motto »Entweder demokratischer Frieden oder aufrechter Widerstand« führte in diesem Jahr türkeiweit mehr Newroz-Teilnehmer zusammen als je zuvor in der Vergangenheit. Kritisiert wurde die Welle der Repressionen gegen kurdische Aktivisten in der Türkei – seit April 2009 wurden mehr als 1500 Menschen inhaftiert – und gegen kurdische Politiker in Europa. Gefordert wurde, dass auch Abdullah Öcalan und die PKK Dialogpartner in einem Friedensprozess sein müssten. Zynisch nennt Beriwan, eine junge Frau, die wir auf einem der Feste kennenlernen, die »Demokratische Initiative« der Regierungspartei AKP, die den Kurden nur geringfügige Zugeständnisse macht.

In Hakkari und Cukurca, einer Stadt nahe der türkisch-irakischen Grenze, sprechen wir mit BDP-Bürgermeistern, Anwälten und Menschenrechtlern. Auch hier herrscht praktisch Krieg. Befürchtet wird eine Frühjahrsoffensive der türkischen Armee. Mehr als 30 000 Soldaten wurden bereits in die Region verlegt. Unsere Gesprächspartner rechnen jederzeit mit Verhaftungen. Einige werden noch während unseres Aufenthalts zu Verhören vorgeladen.

Die in einer frühlingsblühenden Berglandschaft gelegene Kleinstadt Cukurca hat armenische und jesidische Ursprünge. Ihre Umgebung würde eine sehr fruchtbare Landwirtschaft ermöglichen, wenn das Militär nicht Weideverbote verhängt und eine Ausfahrtsstraße durch Beschuss völlig entvölkert hätte. Fast jeden Tag feuern Artilleriegeschütze aus den umliegenden Kasernen meist ziellos in Richtung Irak. In der Provinz Hakkari wurden allein während unserer Reise sechs Menschen Opfer von Minen. Rund 1,6 Millionen Minen, viele aus deutscher Produktion, sollen in der Region verlegt worden sein. Ärzte berichten, die Zahl der Krebserkrankungen habe sich aufgrund der chemischen Entlaubung der Wälder auf den wasserspendenden Hochebenen verdoppelt.

Wir fahren zurück nach Van am gleichnamigen See, der sieben Mal so groß wie der Bodensee ist. Zwischen 850 und 600 v.u.Z. lag hier das Zentrum des blühenden Reiches Urartu. Vom Kale, der Burg von Van, sieht man hinunter auf die Reste von Tuspa, der Hauptstadt Urartus. Ruinen sind davon geblieben.

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