Theater sterben, das Geld lebt

Theatertreffen Berlin: »Die Kontrakte des Kaufmanns« von Elfriede Jelinek

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 7 Min.

Wir haben Kulturkampf. Man kann das Wort durchaus gebrauchen: im Sinne eines Kampfes um Kultur. Statt Kultur gibt es millionenschwere Events, siehe Ruhrgebiet. In Mecklenburg-Vorpommern sollen die längst fusionierten Bühnenverbände Stralsund/Greifswald und Neustrelitz/Neubrandenburg noch einmal fusionieren, so plant es das Land. Man fusioniert so lange, bis nichts mehr da ist? Der Neustrelitzer Intendant Ralf-Peter Schulze fühlt sich wie ein Kapitän, der kein Wasser mehr unter dem Kiel hat. »Wir sind an dem Punkt angekommen, wo man sagen muss: Hier kann man nicht mehr navigieren. Das ist die regionale Krise, und die gebiert einen Irrsinn nach dem anderen.«

Und so klingt er dann, dieser Irrsinn, der Methode hat: Kahlschlag. Der Direktor des Hamburgischen WeltWirtschaftInstituts, Thomas Straubhaar, forderte 2009, pünktlich zum Regierungswechsel die Abschaffung der Subventionen für das Theater überhaupt und begründete das mit mehr »Eigenverantwortung«. Joachim Lux, Intendant des Hamburger Thalia Theaters, antwortete in einem Offenen Brief unter der Überschrift: »Bürger schützt eure Anlagen. Gegen den Systemwechsel«: » ... von der Krankenversicherung als Systemwechsel bis zur Debatte um Kulturhaushalte – eine Kette von desaströsen Vorstellungen, gegen die nur eines hilft: Widerstand.«

Das Theater stört das mediale Verdummungsgeschäft, es kennt den Unterschied von Tragödie und Farce, von echtem und hohlem Pathos zu gut, darum setzt es eine bestimmte Politik so unter Kommerzialisierungsdruck. Elfriede Jelineks »Die Kontrakte des Kaufmanns«, vom Thalia Theater und dem Schauspiel Köln co-produziert, ist ein Stück zur Bankenkrise, die das Gegenteil einer Krise der Banken ist: eine Krise der Politik. Den Banken geht es gut, wir bezahlen immerhin alle für deren Wettgeschäfte.

Das Thema ist so alt wie der Tauschhandel. Wo Geld ist, da verlieren es die einen und gewinnen es die anderen. Das Prinzip der Umverteilung scheint wohldurchdacht. Die Bestimmung des Geldes ist es, nie nur in einer Hand zu sein. Sobald wir auch nur etwas Geld besitzen, gehören wir uns schon nicht mehr. Das Geld jedoch scheint auch etwas faul geworden zu sein, es verlässt die Bank nur noch kurzzeitig – dann besucht es uns sehr freundlich und immer mit verheißungsvollen Prognosen zur Geld-Vermehrung.

Wenn wir ehrlich sind, wissen wir überhaupt nicht, was die Finanzwelt ist. Elfriede Jelinek hat zu diesem Rätsel Geld, das vielleicht nur darum verrätselt wurde, damit wir es uns leichter entwenden lassen, einen Text geschrieben, der uns vorwärtsstößt in jene Sprachregionen der Täuschung, in denen nur noch ein Wunsch in uns ist: dass die Dinge einmal wieder das sind, was sie vorgeben zu sein. Sind sie aber nicht, wir leben in der Welt der Äquivalente, die selber nichts wert sind, aber genau diese Tatsache immer zu verschleiern suchen. Des modernen Kaufmanns Kontrakte – sie führen längst ein virtuelles Eigenleben.

Links unten am Bühnenrand läuft die Leuchtanzeige mit. Da sie nur zweistellige Zahlen anzeigt, ist die Länge des Abends vorgegeben: 99 Seiten Text liegen am Start vor uns, knapp vier Stunden werden vergehen, bis die Null erreicht ist. Der Zuschauer ist frei, er darf gehen, vorzeitig oder auch nur zwischendurch, um eine Pause zu machen – die Türen stehen die meiste Zeit über offen. Zuerst ein »Chor der Kleinanleger«, in der Mitte der Bühne ein Sofa und die Frage, warum Erlöse niemals den Sprung zur Erlösung schaffen, sondern – bestenfalls – neue Erlöse produzieren. Börsenstürze machen melancholisch: »Wir sind immer die nächsten in der Schlange, aber wir kommen nie dran.«

Ohne Gebrauchswert kein Tauschwert. Aber eben daran erinnert sich niemand mehr – und auf diesem Vergessen beruht der immense Erfolg der Finanzwelt. Der eine wettet auf fallende Kurse bei VW, der andere auf steigende. Wird Griechenland die Krise überstehen? Es wird gewettet, diese Wetten entscheiden zuletzt über das, was in der Wirklichkeit passiert. Einer wird dabei zum mehrfachen Millionär, der andere hängt sich auf.

Das Nichts zwischen Nicht und Nichts, das große Nichts, in das man investiert hat – das klingt bei Elfriede Jelinek immer ein wenig wie die Heideggerfassung von Michael Moores Liebeserklärung an den Kapitalismus. Die trügerische Hoffnung: Wenn viele Menschen viel Geld verlieren, vielleicht wächst dann jener »große Glanz von Innen«, als den Rilke die Armut lobte. Doch es ist ja nicht die würdevolle Armut, die mit wenig auszukommen gelernt hat und darum bescheiden geblieben ist. Diese neue Armut, die aus der Tragödie der Kleinanleger erwächst, ist die der zockenden Gier, die nach anfänglichen Gewinnen bloß noch Nieten zieht. Enteignung des nie wirklich Erworbenen, Absturz der immer nur vermeintlich Aufgestiegenen – das ist auch komisch. Die Banken werden zu Erziehern ganzer Nationen, indem sie allzu Arglosen anhand der Geldstrafe, die der Raub ihrer Ersparnisse bedeutet, ein neues »System der Wertschätzungen« vermitteln?

Genau das: unser Verhältnis zum Geld verwandelt sich derzeit zurück von wilder Leidenschaft, unkontrollierbarem Trieb in die Skepsis einer Vernunftehe. Aufklärung, die uns in die Abgründe der Tauschwertbanalität blicken lässt.

Hamburg scheint der ideale Spielort für diese »Textumsetzungsmaschine«: Schopenhauer und Heine haben schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts über das spezielle »System von Wertschätzungen« in der Kaufmannsstadt Hamburg geschrieben. Erfolg hat hier nur, wer ihn bereits in messbarer Währung hierher bringt. Der »Chor der Greise«, der sich anschließt, sich ein wenig zu sehr in beliebigen Unterhaltungsposen gefällt – was man im Zuschauerraum wohl zurecht als Aufforderung versteht, sich ein wenig erfrischen zu gehen – wird immer mehr zu einem aus Anlass des Untergangs des Abendlandes verfassten Requiem. Ein Epilog auf die Antiquiertheit des Konsumenten, ein Oratorium des verlorenen Geldes: »Holen sie sich jetzt ihre Papiere beim Leben ab.«

Entfremdetes Leben ist mitunter erlebnisreicher als ein nicht entfremdetes. Das musste der historische ebenso wie der dialektische Materialismus inzwischen anerkennen. Und doch scheint die materialistische Pointe der Freiheitsideologie so bodenlos wie jener Müllschlucker, der aus allem, was man in ihn hinein wirft, gleich wieder gewinnversprechende Anlageobjekte macht. Das ist die finale Rotation des Tauschwerts, der sich endgültig von jeglichem Gebrauchswert verabschiedete: »Wir werden nicht verantwortlich sein. Und wenn, werden wir natürlich versichert sein. Ohne uns verlieren Sie Ihre Freiheit an den Staat, ohne uns gewinnen sie nichts. Hauptsache der Staat wird nicht auch noch verstaatlicht.«

Wir also sind Analphabeten, die mühsam, aber letztlich vergeblich versuchen, die Sprache des Geldes zu lernen. Dafür ist unser Leben zu kurz. Wie Maria Schrader, Therese Dürrenberger, Franziska Hartmann, Ralf Harster, Daniel Lommatzsch, Sebastian Rudolf und Patrycia Ziolkowska sich in den Sprachstrudel stürzen, der jeden Abend andere Wortansammlungen in die Tiefe reißt: Beachtlich!

Man ist versucht, eine Mythologie über das Geld und die Banken im 21. Jahrhundert zu schreiben – und Elfriede Jelinek ist dieser Versuchung auf hintersinnige Weise erlegen. Schön, wenn sich jemand dazu verführen lässt, anders mit dem Geld zu spielen, nicht in ominös glänzende Fonds voller wohlgesetzter gewinnversprechender Worte zu investieren, sondern sich mühsam auf die Höhe des Schuldenberges hinaufstotternd. Ein Sportstück für Versehrte.

Da zeigt sich die Dramatik der Geschichte plötzlich ganz unerwartet menschlich – schuldenfrei gleichsam, von Hypotheken unbelastet – als »Sprachnotstand«. In dem sieht die Autorin so etwas wie unsere letzte Rettung, an die sie aber auch nicht mehr glaubt, sonst hätte sie wohl etwas mehr Optimismus in ihren Text investiert. Der Virus des Kaufens und Verkaufens hat uns schon so krank gemacht, dass wir Gesundung nur davon erhoffen, selbst zum Virus zu werden. Ist das spielbar? Ja, aber nicht als Stück, sondern als Fechten vor jenem Spiegel, der immer nur uns selbst zeigt.

Der Spiegel? Die Bank!

Allein von den 3,6 Milliarden Euro, die der Freistaat Bayern in die Landesbank fließen lässt, könnte man alle Theater Deutschlands zwei Jahre subventionieren.

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