Die Ukraine vom Rand in die Mitte gerückt

  • Detlef D. Pries
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Ukraine machte in jüngster Zeit vor allem durch eine misslungene Revolution und heftige Auseinandersetzungen zwischen angeblich prorussischen und vorgeblich »prowestlichen« Politikern von sich reden. Als Reiseziel ist das Land »am Rand«, wie sein Name übersetzt heißt, weniger bekannt. Dies zu ändern hat sich Brigitte Schulze vorgenommen, die seit zwei Jahrzehnten als Journalistin und Beraterin in der Ukraine unterwegs ist. Sich unverhohlen als Reiseverführerin bekennend, rückt sie das Land mit bemerkenswertem Eifer in das Zentrum Europas, wo es seine Bewohner ohnehin gerne sehen.

Wer die Ukraine auf eigene Faust erkunden will, findet in Schulzes Buch tausend wertvolle Tipps. Auf zehn Routen führt die Autorin ihre Leser durch das Land: zum Badeurlaub nach Odessa oder auf die Krim ebenso wie zum Skifahren in die Karpaten, zur Entdeckung österreichischen Charmes in der Westukraine und eines reichen Kulturlebens im russisch geprägten Osten. Natürlich ist der Hauptstadt Kiew ein eigenes Kapitel gewidmet. Ergänzt ist das alles durch Adressen, Telefonnummern und Fotos von Museen, Theatern und Herbergen unterschiedlicher Preis- und Güteklassen. Nicht einmal die besonderen Kochkünste einzelner Pensionsbetreiberinnen bleiben unerwähnt. Wichtige Redewendungen werden in Ukrainisch und Russisch vermittelt und schließlich klärt Frau Schulze in Wort und Bild sogar über der Beschriftung »kreativer Örtchen für elementare Bedürfnisse« auf.

Es gibt die eine oder andere Passage auf den 324 Seiten, die gelernte DDR-Bürger besser überlesen sollten. Man weiß inzwischen, dass »Wessis« sich gern über den »sozialistischen Geruch« im wilden Osten mokieren. Aber ausgezeichnete Ortsbeschreibungen und die Schilderung lehrreicher Erfahrungen mit ukrainischer Lebensart machen das Buch zum exzellenten Reiseberater, zumal die Autorin dazu auffordert, im Bedarfsfall einfach bei ihr anzurufen.

Freilich muss Brigitte Schulze zugeben, dass sie auch nach 20 Jahren manchmal rein gar nichts verstehe von der »ukrainischen Seele« oder der »slawischen Mentalität«.

Wer sich also tatsächlich auf die Reise gen Osten macht, sollte vorher ein zweites Ukraine-Buch gelesen haben. Viktor Timtschenko, in Markleeberg bei Leipzig wohnhafter gebürtiger Ukrainer mit russischer Verwandtschaft, gelegentlich auch ND-Autor, versucht seine Heimat auf ebenso humorvolle wie tiefgründige Weise vorzustellen. Er führt in die frühe Geschichte ein und erklärt die gegenwärtigen Probleme, schildert den Alltag und porträtiert prominente Zeitgenossen. Zwangsläufig kommt Timtschenko immer wieder auf das widersprüchliche ukrainisch-russische Verhältnis zurück. Warum wird in der Ukraine nur die erste Strophe eines Gedichts aus dem Jahre 1862 als Nationalhymne gesungen, warum verfasste der Ukrainer Nikolai Gogol seine Werke – ganz aus freien Stücken – ausschließlich in Russisch, warum sehen heute viele Ukrainer ihre Hauptstadt im Deutschen lieber Kyjiw oder Kyiw geschrieben als Kiew? Mit Millionen Fäden seien Russen und Ukrainer miteinander verbunden, und gerade deshalb sei die Situation so tragisch: »Wenn man einen Nachbarn nicht gern hat, ist das verständlich. Wenn einem aber der Blutsbruder verhasst ist, dann ist einem selbst bisweilen nach einem Strick zumute«, schreibt Timtschenko, dem jeder Nationalismus fremd ist.

In einer Kiewer (oder Kyiwer) Zeitung fand der Autor folgende Anzeige: »Tausche einen Perserteppich 3 x 4 Meter gegen ein Stück Speck gleicher Größe.« Nur zu logisch, wenn man Timtschenkos Beitrag über die Bedeutung des Specks für die Demokratie gelesen hat. Für Ukraine-Reisende eine unverzichtbare Lektüre.

Brigitte Schulze: »Ukraine ... wie ich sie liebe. Kommen Sie mit!« Brigitte Schulze Verlag, Weilheim 2010, ISBN 978-3-9810467-3-1, 16,80 Euro.
Viktor Timtschenko: »Ukraine. Einblicke in den neuen Osten Europas« Ch. Links Verlag, Berlin 2009, ISBN 978-3-86153-488-4, 16,90 Euro.

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