Idylle und Albtraum

César Aira und zwei alte Leute in den »Nächten von Flores«

  • Fokke Joel
  • Lesedauer: 3 Min.

Jorge Luis Borges, der große argentinische Schriftsteller, hat einmal geschrieben, Literatur sei »nichts anderes als ein Traum«. Eine solche Behauptung könnte zur Annahme führen, Literatur hätte nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Oder sei nur dazu da, von ihr abzulenken. Dabei gibt es nur Weniges, was so sehr die Realität prägt wie unsere Träume – aus denen wir erwachen müssen.

César Airas Roman »Die Nächte von Flores« beginnt mit solch einem Erwachen. Unter der Regierung Carlos Menem hatte Argentinien die 90er Jahre des letzten Jahrhunderts im neoliberalen Traum des sich selbst regulierenden Marktes gelebt. Erst in der dadurch hervorgerufenen tiefen Krise erwachte das Land. Der unkontrollierte Markt hatte weite Teile der Mittelschicht in die Armut getrieben. Heute sind Millionen Argentinier darauf angewiesen, sich mit mehreren schlecht bezahlten Jobs den Lebensunterhalt zu verdienen.

In Airas Roman ist es ein älteres Ehepaar, Aldo und Rosa, die in Buenos Aires im Stadtteil Flores für einen Pizza-Service arbeiten. Statt mit Motorroller oder Moped die Ware auszuliefern, bringen sie das Bestellte zu Fuß zu Kunden in der Nähe der Pizzabäckerei. Krise hin, Krise her, es scheint so, als hätte der neue Zwang, etwas dazuzuverdienen, die beiden aus ihrer Alterslethargie geworfen. Und am Ende sieht es sogar so aus, als ob ihnen die Arbeit Spaß macht.

Der Mord an dem jungen Pizza-Fahrer Jonathan dagegen wirkt für viele irreal, wie ein Alptraum, allerdings einer, den man schnell vergisst. Denn fast alles, was die Bewohner von Flores über den Mord wissen, kommt aus dem Fernsehen. Realität und Fiktion werden immer mehr in der Sensationsberichterstattung vermischt. Sodass am Ende kaum jemand den Mord ernst nimmt. Anders Aldo und Rosa: Kurz nachdem sie von der Entführung erfuhren, hörten sie auf fernzusehen. »Sie hätten glauben können, sie verließen die Welt der Darstellung und gingen ein in die Welt der Wirklichkeit.« Denn durch ihre Arbeit, Pizza im Viertel auszuliefern, hielten sie sich in der Realität auf, während die meisten anderen die Wirklichkeit nur aus ihrem Fernsehgerät kannten.

Doch so einfach ist es auch hier nicht. Aira erzählt die Geschichte so, dass es immer schwieriger wird, Traum und Wirklichkeit zu unterscheiden. Aldo und Rosas Leben erscheint zunächst wie eine Idylle, wie der Traum vom Alter: Ein Rentnerehepaar, das Hand in Hand durch die Straßen läuft, immer ein paar Schachteln mit frischer Pizza dabei; das im Grunde die Krise glücklich gemacht hat, weil sie nun eine Aufgabe haben und mit jungen Menschen zusammen sind.

Doch dann ändert sich alles. Die Idylle wird zum Albtraum aus Gewalt und Korruption in einer Welt, in der die Ununterscheidbarkeit von Traum und Wirklichkeit dazu führt, dass auch nicht mehr zwischen Gut und Böse unterschieden wird.

César Aira hat das alles in einem lockeren Stil zu Papier gebracht. Er will nicht, wie es Borges der engagierten Literatur vorwarf, »zu etwas überreden«. Aber er hat auch kein apokalyptisches Buch geschrieben, selbst wenn am Ende fast alles außer Kontrolle gerät. Eher eines, das mit einer spannend erzählten und ungewöhnliche Geschichte darauf hinweisen will, wohin die heutigen Verhältnisse führen können.

César Aira: Die Nächte von Flores. Roman. Übersetzung Klaus Laabs. Claassen Verlag, 160 S., geb., 18 €.

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