Gleichheit und Geschlechtergerechtigkeit – was will frau mehr?

  • Margarete Tjaden-Steinhauer
  • Lesedauer: 8 Min.
Die Partei DIE LINKE hat mit der Debatte um ihr Grundsatzprogramm begonnen, das sie im Herbst 2011 beschließen will. ND begleitet die Debatte mit einer Artikelserie. Heute: Margarete Tjaden-Steinhauer befasst sich mit der institutionellen Gefangennahme der Frauen in der patriarchalischen Gesellschaft, mit ihrer Selbstentfremdung und Dienstbarkeit. Die Sozialwissenschaftlerin, Autorin u. a. von »Klassenverhältnisse im Spätkapitalismus« (1973) und »Die verwaltete Armut« (1985), lehrte von 1975 bis 2001 an der Universität Kassel. Zu ihren jüngeren Veröffentlichungen gehört »Geschlecht und Liebe bei Friedrich Engels und Clara Zetkin« (2007, Das Argument 273).

Ein Seiteneingang der »Galeria Kaufhof« in unserem schönen Städtchen gibt der Benutzerin und dem Benutzer einen kuriosen Anblick frei, den Anblick auf ein überwältigendes Arsenal von Büstenhaltern. Mich erinnert diese Gerätschaft an landwirtschaftliches Geschirr, an Joch und Kummet, mit denen tierliche Körperkraft von Menschen in ihren Dienst gezwungen wird. Weisen Büstenhalter nicht in dieselbe Richtung? Sind sie nicht ein Instrument, das zwar nicht den unmittelbaren Gebrauch von Körpervermögen bewerkstelligt, wie jenes landwirtschaftliche Geschirr, wohl aber die öffentliche Präsentation der besonderen prokreativen Körperpotentiale der Menschen mit weiblichem Körpergeschlecht? Und steckt in dieser Präsentation nicht die Prätention, diese Potentiale seien ein gesellschaftlich verfügbares Gut? Wohnt also dem Büstenhalter nicht eine ebensolche heteronome Verfügungsgewalt inne wie dem landwirtschaftlichen Geschirr? Sind Frauen in unserer Kultur also nicht ihre eigenen »Herrinnen« und auch nicht die ihres eigenen körperlichen Fortpflanzungspotentials wie Männer Herren des ihrigen sind?

Wenn sie diese Herrinnen wären, würde es weder die bürgerliche Ehe, noch die bürgerliche Familie geben. Beide sind nicht erforderlich, damit Frauen das besondere Fortpflanzungsvermögen, das ihr Körper dem männlichen Körper voraus hat, wirksam werden lassen können: Nachwuchs, neue menschliche Individuen zur Welt zu bringen. Und auch nicht dafür, diesen die notwendige Betreuung zukommen zu lassen. Wenn der Zweck des Instituts Ehe und der Institution Familie nicht darin liegen, überhaupt Nachwuchs hervorzubringen und ihn zu betreuen, worin liegt er dann? Allem Anschein nach doch darin, Frauen bzw. Mütter und ihren Nachwuchs Männern bzw. Vätern zur Verfügung zu halten. Denn ohne diese gesellschaftlichen Einrichtungen stünden Männer ohne Kinder da – worüber sicher so mancher Mann heute froh wäre.

Aber während die Väter Verfügung(sgewalt!) gewinnen, geben die Mütter die Verfügung, die sie über ihre prokreative Potenz und deren Gebrauch haben, aus der Hand. Kein Mann tut etwas dergleichen. Das Wort Familie beherbergt also eine eigenartige gesellschaftliche Anordnung von erwachsenen und heranwachsenden Menschen weiblichen und männlichen Körpergeschlechts, die den erwachsenen Letztgenannten die Verfügung über eine Naturpotenz verschafft, derer sie sonst nicht ohne weiteres habhaft werden könnten. Erwachsene weiblichen Körpergeschlechts sind nun dagegen von klein auf gehalten, sich der Verfügung über dasjenige zu enthalten, worauf Väter und Ehemänner mittels der gesellschaftlichen (Zwangs!)Institution Familie einen Anspruch erheben (können). So kommt es, dass ihre ureigenen körperlichen Fortpflanzungspotenzen ihnen entfremdet und verdinglicht werden und zwangsweise zu einer beliebig nutzbaren Sache gemacht werden, die jenen unmittelbar zu Diensten steht – und dies nicht erst in der bürgerlichen Gesellschaft.

Und frau bedenke, diese eigenartige Anordnung ist keine theoretische Handlungsanleitung, sondern alltägliches praktisches Tun und Lassen der beteiligten Individuen. Es ist eine – freilich in der Regel undurchschaute – Alltagspraxis, in der sich Frauen mit der gesellschaftlich institutionalisierten Zumutung von Selbstentfremdung und Dienstbarkeit abgefunden haben.

Diese Anordnung, die – bei aller Liebe – eben auch die Grundlage der bürgerlichen Ehe und Familie bildet, ist weder eine Vorgabe der Natur – auch wenn sie als eine Art Natur erscheint –, noch ist sie ein Geschenk des Himmels – was manch einer wohl meint. Sie hat eine Geschichte von wenigen tausend Jahren, und sie ist in gesellschaftlich unterschiedlichen familialen Ausprägungsformen aufgetreten bzw. tritt heute noch auf. Ihr Ursprung dürfte in den Stadtgesellschaften des sumerisch-akkadischen Kulturkreises zu suchen sein, die sich seit dem Ende des 4. Jahrtausends vor unserer Zeitrechnung (v. u. Z.) im Süden Mesopotamiens herausbildeten. Jedenfalls ist eine entsprechende patriarchale Familie in den bis dato ältesten keilschriftlichen Fragmenten von Gesetzestexten um die Wende vom 3. zum 2. Jahrtausend v. u. Z. in Gesellschaften dieses Kulturkreises – voll entwickelt – fassbar.

Es waren diese Gesellschaften, in denen ein bewässerungslandwirtschaftlicher (und zwar tierhalterischer und pflanzenbaulicher) Produktionsmodus in Gang gehalten und die Beziehungen der Menschen zu ihrer Um- und Mitlebewelt von einem ausbeuterischen und manipulativen Aneignungsregime dirigiert wurden. Hiervon waren auch ihre eigenen Beziehungen untereinander nicht verschont. Im Zusammenhang mit der väterlichen waren weitere gesellschaftliche Verfügungsgewalten aufgekommen, eine ökonomische, eine staatliche und eine das Wahrnehmungsvermögen betreffende (perzeptorische), die sich als ständige gesellschaftliche Einrichtungen etabliert hatten: in der Familie, dem Wirtschaftsunternehmen, der Staatsmacht und den Instanzen der Wissensproduktion und -verwaltung. Es war ein Typus von Gesellschaft entstanden, dessen ausbeuterisches Gewaltregime sich in vier Facetten unterteilen lässt: in ein ökonomisches Aneignungsregime, ein staatliches Gebietsregime, ein patriarchales Fortpflanzungsregime und ein normierendes Wahrnehmungsregime.

Der Fortbestand der Gesellschaft wurde zu einer Angelegenheit der verschiedenen Machthaber. Unter dem patriarchalen Fortpflanzungsregime widerfährt dem Gebärvermögen die schon angesprochene Verdinglichung und das – wohlgemerkt menschengemachte – Schicksal einer scheinbar nach Belieben nutz- und verwertbaren Sache, ein Schicksal, das es zusammen mit den vielfältigen anderen Naturpotentialen teilt, die in den Griff des gewalttätig-ausbeuterischen Produktionsregimes geraten. Die Bedeutung, die das weibliche Fortpflanzungsvermögen für den Bevölkerungsbestand hat, gerät dabei dessen Besitzerinnen zum Nachteil: Es beginnt für diese eine institutionelle Gefangennahme in der patriarchalen Familie und die sexuell-prokreative Indienstnahme durch den väterlichen bzw. ehelichen Machthaber.

In den verschiedenen historischen Ausprägungsformen der patriarchalen Familie, die die von diesen südwest-asiatischen Anfängen ausgehende, westwärts gerichtete zivilisatorische Entwicklung u. a. auf dem europäischen Kontinent erbracht hat, sind diese intitutionellen Gefangen- und Indienstnahmen, wie wir wissen, immer wieder erneuert worden. Das bezeugen historische Quellen etwa über die Familie in der griechischen und römischen Antike, in der deutschen mittelalterlichen Gesellschaft und in muslimischen Gesellschaften bis in die Gegenwart.

Auch die moderne bürgerliche Familie macht da keine Ausnahme. Und man komme nicht mit Gegenargumenten wie dem, frau sei heute in Deutschland bezüglich der väterlichen Gewalt doch mit dem Kindsvater gleichberechtigte Inhaberin der sogenannten elterlichen Sorge. Oder mit dem, frau gehe heutzutage in der BRD und anderen Gesellschaften in der Tradition des genannten Zivilisationsstranges doch aus freien Stücken eine Ehe ein und erfülle sich via Familiengründung ihren eigenen »Kinderwunsch«. Abgesehen davon, dass noch so viel elterliche Sorge die patriarchale Verfügungsgewalt über die Kinder nicht aufhebt, unter deren Regime diese ähnlich wie das Gebärvermögen zu einer fremdbestimmten nutzbaren Sache gemacht werden, ist mit der rechtlichen Beteiligung an der »elterlichen Sorge« die sexuell-prokreative Dienstbarkeit der Ehefrau nicht zum Verschwinden gebracht. Und mit der Ehe(frei)willigkeit und dem Kinderwunsch der Frau hat es heutzutage auch keine ganz koschere Bewandtnis; denn wie Jedermann weiß, tragen zu beidem Erziehung und Sozialisation ihren – nicht ganz gewaltlosen – Teil bei.

Ohne Zweifel ist eine Politik geradezu ein Muss, die den Abbau von gesellschaftlichen »Benachteiligungen« der Frauen betreibt; d. h. der Folgen, die sich mit ihrer sexuell-prokreativen Dienstbarkeit in den verschiedenen Entwicklungsetappen jenes Zivilisationsprozesses bis heute immer wieder neu – und in unterschiedlichen Erscheinungsformen – eingestellt haben: die wirtschaftliche Behinderung und ökonomische Abhängigkeit, die juristische Unterordnung und rechtliche Unmündigkeit, die politische Zurücksetzung und öffentliche Bevormundung der Frauen (ich weise zur Verdeutlichung auf zwei Komplexe im deutschen Strafrecht hin: das Prostitutionsreglement und den Schwangerschaftsabbruch) sowie, schließlich, das heteronome Frauenbild und die Aufspaltung (divide et impera!) der Frauen infolge der gesellschaftlichen Ächtung der gewerblichen sexuellen Dienstleistung.

Es ist nützlich, sich darüber im Klaren zu sein, dass diese »Benachteiligungen« ihren Ursprung in den angesprochenen institutionellen gesellschaftlichen Verfügungsgewalten haben. Bei deren Abbau sollten wir uns nicht allzu sehr auf die offizielle Strategie der top-down-Gleichstellung und das vielbeschworene Gleichheitslabel verlassen. Denn diese schleppen zum einen die falsche Vorstellung mit sich, jene Benachteiligungen gründeten letztlich in naturwüchsigen menschlichen Beschaffenheiten und seien keine institutionellen gesellschaftlichen Gewordenheiten. Und zum anderen nehmen sie »den Mann« (in diesem Fall eine klassifikatorische Fiktion, wie noch verdeutlicht werden soll) zum Maßstab für die Abbaubemühungen. Dieser Problematik sollten wir uns bewusst sein. Allerdings braucht sie uns nicht daran zu hindern, die offiziellen Versuche zum Abbau jener Benachteiligungen zu unterstützen – freilich kritisch und aus gehöriger Distanz.

Eine Politik, die die Interessen der Frauen ernsthaft und kompromisslos vertreten will, sollte auch auf der Hut sein vor dem Begriff Geschlechtergerechtigkeit. Der Begriff Geschlecht erfährt derzeit einen geradezu inflationären Gebrauch, was stutzig machen sollte. Denn der Begriff, der in immer neuen Kompositionen in die öffentliche Diskussion geworfen wird, meint nicht einen realen Gegenstand, der in der außersprachlichen Wirklichkeit ein Dasein hat – die körperlichen Ausprägungen der Fortpflanzungspotenz beim Menschen und anderen tierlichen Spezies. Er ist kein in diesem Sinn realer, sondern im Gegenteil ein fiktionaler Begriff. Sein »Gegenstand« ist ein reines Gebilde der Imagination, eine Fiktion.

Dieser fiktionale Geschlecht-Begriff hat eine Geschichte. Zunächst gab es (jedenfalls im deutschsprachigen Raum) eine als genealogisch zu kennzeichnende Denkweise, die mit Geschlecht die Fiktion einer gewissermaßen eingeschlechtlichen Menschheit in der Verkörperung eines »Stammvaters« propagierte. Sie ist im Übergang zur bürgerlichen Ära durch eine als biologistisch-klassifikatorisch bezeichnete Denkweise abgelöst worden, die von der Vorstellung einer geschlechtlich zweigeteilten Gattung Mensch ausgeht. Mann und Frau sollen die Verkörperungen dieser Gattung darstellen und zueinander in einem Geschlechterverhältnis stehen. Auf diese Weise kommt jetzt eine zweigeschlechtliche Gattung Mensch unter den klassifikatorischen Bezeichnungen »Mann« und »Frau« zustande, und werden alle Individuen entsprechend ihrem Körpergeschlecht auf zwei Geschlechterklassen aufgeteilt.

Es liegt auf der Hand, dass diese biologistisch-klassifikatorische Fiktion der Zweigeschlechtlichkeit eine Gleichheit zwischen Frau und Mann vortäuscht, die es realiter nicht gibt, weil, wie schon erwähnt, das körperliche Fortpflanzungspotential der Frauen mit dem Gebärvermögen nun einmal eine Fähigkeit besitzt, die demjenigen der Männer fehlt. Diese Vortäuschung redet nichts anderem das Wort als dem ideologischen Bestreben, die sexuelle Dienstbarkeit der (Ehe)Frauen zeitgemäß-modern unter dem Deckmantel formaler bürgerlicher Rechtsgleichheit fortzuschreiben. Und das Reden von Geschlechtergerechtigkeit ist ein ideologisches Manöver, das nur darauf hinausläuft, die »erniedrigte Stellung der Frau[en]« (Friedrich Engels), welche diesen als Menschen (im Unterschied zu Männern) mit jener Dienstbarkeit bis heute gesellschaftlich zugemutet wird, mit neuen Worten zu rechtfertigen.

Nächster Montag:

Christine Buchholz, Gegen die Militarisierung der deutschen Politik

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