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Endlich im Kino: »Die Taube auf dem Dach« von Iris Gusner

  • Martin Mund
  • Lesedauer: 6 Min.
Szene mit Günter Naumann
Szene mit Günter Naumann

Am 23. Januar 1973 trifft sich das Leitungsgremium des DEFA-Studios für Spielfilme zur wöchentlichen Beratung bei Hauptdirektor Albert Wilkening. Auf der Tagesordnung steht die Frage, welche der neuen Filme zu internationalen Festivals entsandt werden könnten. Für Moskau erwägt man Heiner Carows »Legende von Paul und Paula«. Egon Günthers »Die Schlüssel« mit der überragenden Jutta Hoffmann soll für Venedig angemeldet werden. »Das zweite Leben des Friedrich Wilhelm Georg Platow«, eine Komödie von Siegfried Kühn, könnte die DDR in West-Berlin vertreten, falls es überhaupt dazu kommt, dass die sozialistischen Ländern erstmalig an diesem Filmfestival teilnehmen. Und Iris Gusners Debütfilm »Die Taube auf dem Dach« wird als Kandidat für das Schweizerische Locarno in Erwägung gezogen. Die Babelsberger haben sich kluge Gedanken gemacht; gegen die Vorschläge ist vom künstlerischen Standpunkt nichts einzuwenden.

Und doch kommt alles anders. Die Filme waren im Zeichen einer vorsichtigen kulturpolitischen Liberalisierung entstanden. Auf dem VIII. Parteitag der SED im Juni 1971 hatte Erich Honecker die Künstler zu einem »offenen, sachlichen, schöpferischen Meinungsstreit« aufgefordert und »volles Verständnis bei der schöpferischen Suche nach neuen Formen« versprochen. Ein halbes Jahr später, im Dezember, unterstrich er, dass es »auf dem Gebiet von Kunst und Literatur keine Tabus geben« dürfe, »wenn man von den festen Positionen des Sozialismus ausgeht«. Nun nahmen die Filmemacher Honecker beim Wort. Ihre Arbeiten widmeten sich sozialen und moralischen Beziehungen der Menschen im Lande, waren frisch, in Maßen frech, aufstörend, und alle suchten nach einer artifiziellen Form abseits der Konvention.

Im Mai 1973, auf dem 9. Plenum, ruderte Honecker dann zurück, glaubte einen Missbrauch der gewährten Freiheiten entdeckt zu haben: »Dem Neuen nachzuspüren, es aufzudecken und mitzugestalten, gelingt am wenigsten dadurch, dass versucht wird, eigne Leiden der Gesellschaft aufzuoktroyieren«, ließ er in Bezug auf Ulrich Plenzdorfs »Neue Leiden des jungen W.« wissen – und meinte damit ganz pauschal die bohrenden Fragen von Schriftstellern, Theaterleuten und Filmemachern zu gesellschaftlichen Problemen und Prozessen.

In den Wochen rund um diese Tagung schrillten bei der DEFA wieder einmal alle Alarmglocken; das 11. Plenum des ZK der SED, nach dem fast eine ganze Jahresproduktion des Studios verboten worden war, lag ja nur acht Jahre zurück, und eine ähnliche Situation sollte dringlichst vermieden werden. So wurden »Die Schlüssel« zunächst auf Eis gelegt und kamen, nach Schnittauflagen, erst Anfang 1974 heraus. »Das zweite Leben des Friedrich Wilhelm Georg Platow« starteten ohne offizielle Premierenfeier; Kritiken durften nicht erscheinen. Und »Die Taube auf dem Dach« wurde gleich ganz verboten. Keiner dieser Filme lief auf einem internationalen Festival.

Regisseurin Iris Gusner, die an der Moskauer Filmhochschule WGIK studiert und mit der »Taube« ihr lang erwartetes Debüt vorgelegt hatte, reflektierte die Widersprüche zwischen Ideal und Wirklichkeit, zwischen utopistischem Anspruch und Realität. Sie führte ihre drei Hauptfiguren auf einer Großbaustelle zusammen. Der Brigadier Böwe (kantig und verwundbar: Günter Naumann) zieht seit Jahrzehnten von einem Bau zum anderen, ohne sich zu schonen: ein Idealist, der auf dem Wege zum »gesamtgesellschaftlichen Glück« seine eigene Familie verloren hat. Auch die Bauleiterin Linda (von leiser Traurigkeit: Heidemarie Wenzel), die noch am Anfang ihrer Laufbahn steht, geht in ihrem Beruf auf, beginnt aber darüber nachzudenken, wie Arbeit und Privatleben zu vereinbaren wären. Böwe, der ihr Avancen macht und den sie durchaus mag, kommt für sie als Partner kaum infrage; da spielt nicht nur sein Alkoholkonsum eine Rolle, sondern auch der soziale Unterschied zwischen ihr, der Intellektuellen, und ihm, dem Arbeiter. – Aber auch der Student Daniel (Andreas Gripp) dürfte bei ihr nicht die erhofften Chancen haben: Sie schätzt zwar seinen spontanen Idealismus, etwa wenn er gegen die Bürokratisierung des Solidaritätsgedankens rebelliert, aber er ist für sie zu unreif, naiv. Roland Gräf und Jürgen Lenz an der Kamera bevorzugten halbtotale und halbnahe Einstellungen, dem Wunsch der Regisseurin entsprechend, eher Vorgänge aus gewisser Ferne und weniger Emotionen zu zeigen: ein kühl sezierender Draufblick, eine soziale und soziologische, moralische, nicht aber moralistische Versuchsanordnung.

Iris Gusner skizzierte einen Alltag, der zum Zerrbild, zur Karikatur eines hochfliegenden gesellschaftspolitischen Entwurfs zu geraten drohte oder schon geraten war. Dafür nutzte sie die Form eines Mosaiks. Obwohl »Die Taube auf dem Dach« eine Dreiecksgeschichte andeutet, zwang Gusner sie nicht in den Rahmen einer geschlossenen, melodramatisch zugespitzten Fabel, sondern öffnete sie zu einem bruchstückhaften, bewusst spröden Kaleidoskop, das durch 1973 erfolgte Schnitte, die heute nicht mehr aufzuheben sind, noch spröder wurde. Plötzlich werden Nebengestalten wichtig, als mögliche Projektion der Zukunft der Hauptfiguren. Erzählerische Tableaus, die wie ein Happening wirken, schaffen eigene Inseln im Strom der nur angedeuteten Story; satirische Passagen wie der Auftritt sich betrinkender Bauarbeiter im Interhotel sorgen angesichts des insgesamt ernsten Grundtons für Irritationen. Diese »offene Dramaturgie« war zur Entstehungszeit der »Taube« international en vogue; bei der DEFA wurde solch ein spielerischer Umgang mit dem Stoff am konsequentesten kurz nach 1970 gepflegt, in Filmen wie Lothar Warnekes »Es ist eine alte Geschichte«, Konrad Wolfs »Der nackte Mann auf dem Sportplatz« oder Egon Günthers »Die Schlüssel«, dem wohl vollendetsten Versuch, klassische Erzählstrukturen aufzubrechen und im DDR-Kino den Anschluss an die Moderne zu wagen. Die »offene Dramaturgie« war nicht zuletzt deswegen bedeutsam, weil sie es ermöglichte, viele Fragen zu stellen, ohne gleich mit Antworten aufwarten zu müssen.

In ihrem Buch »Fantasie und Arbeit« (Schüren-Verlag 2009) erzählt Iris Gusner, dass damals im Studio und auch außerhalb kolportiert wurde, sie sei handwerklich unfähig gewesen, den Film zu Ende zu bringen. »Die Taube auf dem Dach« sei nicht aus politischen Gründen verboten worden; im Gegenteil: Man habe die junge Regisseurin vor Rufschädigung schützen wollen. In internen Beratungen waren die Vorwürfe allerdings durchaus politischer Natur; Iris Gusner notierte sie in ihrem Tagebuch: »In jeder Szene Angriffe gegen die DDR; die Menschen alle in der Krise; das Arbeiterbild verzerrt. Iris Gusner hat der Arbeiterklasse ins Gesicht gespuckt.« Viele Sequenzen stießen auf Vorbehalte: unter anderem jene Szene zwischen Böwe und einem Kollegen, der sich ein eigenes Haus baut und Böwe vorwirft, seine Knochen stets nur für den Staat hingehalten und nie für sich selbst gesorgt zu haben. Iris Gusner wollte damit das »zunehmend kleinbürgerliche Denken« gerade auch der Arbeiter kritisieren, den »Verlust der Utopie«. Nicht zuletzt irritierte der Monolog von Daniels Vater, eines Herstellers von Weihnachtsbaumkugeln (Herbert Köfer): »Jede Weihnachtsfeier ist so bunt, wie wir sie wollen. Die Leute kaufen unsere fertigen Kugeln, und ihnen bleibt nur die Freiheit, sie auf dem Tannenbaum zu verteilen. Und da gibt es nicht allzu viele Möglichkeiten...« Abgesehen von solchen Details war den kulturpolitischen Entscheidungsträgern die Grundhaltung der »Taube« insgesamt suspekt: Kein Problem wurde einer Lösung zugeführt, keine trügerische Hoffnung geweckt.

Von der farbigen »Taube auf dem Dach« blieb nach dem Verbot eine Arbeitskopie erhalten, deren Farbschichten sich 1989/90 so stark abgelöst hatten, dass nur eine Umkopierung auf ein schwarzweißes Dup-Negativ möglich war. Als der Film im Oktober 1990 erstmals gezeigt werden konnte, nahm das die Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis; danach verloren sich erneut alle Spuren des Materials. Erst jetzt gelang es der DEFA-Stiftung, das Dup-Negativ wieder zu finden und »Die Taube auf dem Dach« zu rekonstruieren. Obwohl Iris Gusner der Farbe eine wichtige dramaturgische Funktion beimisst – der Film sei dadurch lyrischer, weicher und sinnlicher gewesen –, vermisst man sie nicht. Das Schwarzweiß entspricht haargenau der dramaturgischen Kantigkeit, der herben Kritik am inneren Zustand der DDR »von links«.

Premiere wird schon am 6. September im Kino «Arsenal« sein.
Filmstart 9.9., Premiere heute, 19 Uhr, Kino »Arsenal«, Potsdamer Straße 2, 10727 Berlin.

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