Heilsame Brüche in der Biografie

Nachdenken über den DEFA-Regisseur Ulrich Weiß

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.
Jenny Gröllmann als Renate und Uwe Kockisch als Arnold in »Dein unbekannter Bruder«.
Jenny Gröllmann als Renate und Uwe Kockisch als Arnold in »Dein unbekannter Bruder«.

Erfahrung ist ein intime Form der Weltaneignung. Die Filme von Ulrich Weiß (geboren 1942 in Wernigerode) sehend, frage ich mich, mit welchem Selbstverständnis verschiedene Generationen in der DDR gelebt haben. Wie waren ihre Gefühlslagen, was lag in der Zeit als Antreibendes und als Bremsendes – und wie artikulierte sich der Widerspruch aus beidem?

Ulrich Weiß drehte 1992, mit fünfzig Jahren, seinen letzten – den fünften – Spielfilm: allzu frühes Ende der Laufbahn eines Regisseurs, der einmal als das »Wunderkind« der DEFA galt. »Miraculi« ist der Alptraum einer zerbrechenden Welt: Realitätsflucht und Gegenweltbestimmung zugleich. Weiß emigrierte gleichsam in die psychische Krankheit, aber wenn man ihn heute trifft, dann sprüht er vor Geist und man ist doppelt erschüttert davon, dass dieser große Künstler nie mehr einen Film gedreht hat.

Die Frage der Erinnerungsräume rein retrospektiv zu verhandeln, wäre eine billige Selbstgerechtigkeit – wir müssen schon bei allem Nachdenken über Vergangenes uns heute mitzudenken versuchen. Zeitbilder, die nicht abstrakt sein wollen – jeder Abstraktion wohnt die Militanz schon inne – sind oft biografisch, individuelle Erfahrung der Zeit, die etwas Wesentliches an ihr sichtbar macht. So sind die Filme von Ulrich Weiß, des vielleicht unbekanntesten und dennoch auf bildmächtige Weise präsenten DEFA-Regisseurs.

»Tambari« (1977) ist viel mehr als ein Kinderfilm: subtilste Filmkunst, von einer suggestiven Bildsprache, die an Tarkowski und Kaurismäki denken lässt, aber doch jederzeit eine ganz eigene ist. Mich hat diese Sprache sehr beeindruckt. Benno Pludra, der passionierte Seefahrer unter den Kinderbuchautoren – »Bootsmann auf der Scholle« hat wohl jeder, der im Osten aufwuchs, gelesen – schrieb das Buch. Ich sehe in diesem Film zwei Stimmungslagen auf Kollisionskurs: Die Kinder, die um das Vermächtnis des »alten Luden« kämpfen, das Schiff wieder seetüchtig bekommen wollen, und die Eltern, die das gar nicht interessiert, die anscheinend nicht wissen, was das ist: ein Schiff. Eine ungeheure Sehnsucht nach Aufbruch aus zu engen Verhältnissen und ein Bild von Ferne durchzieht »Tambari«, aber auch eine melancholische, geradezu depressive Grundschicht, die Atmosphäre von Abschied. Ideen brauchen Transportmittel durch das Meer der Zeit.

»Dein unbekannter Bruder« von 1981 ist Ulrich Weiß' bedeutendster und zugleich vergessenster Film, der es unbedingt wert ist, wieder entdeckt zu werden. Ein Film (mit Michael Gwisdek, Uwe Kockisch und Jenny Gröllmann) über den kommunistischen Widerstand in der NS-Zeit, der sich den ideologischen Klischees entzieht. Einer in der Widerstandgruppe ist ein Spitzel der Gestapo, und der scheint nicht mal der unsympathischste unter ihnen. Politbüromitglied Hermann Axen soll die Premiere verlassen haben, mit den Worten: »So waren wir nicht!«. Die Wunde, die die Reaktionen auf diesen Film schlugen – sie heilte nicht mehr. Weiß: der Perfektionist. Alle seine Filme sind exzellent besetzt, die besten Schauspieler des Landes scheinen sich darum gedrängt zu haben, bei ihm spielen zu dürfen – oft nur in kleinen, aber immer markanten Rollen. In »Tambari« spielen nicht nur Erwin Geschonneck und Kurt Böwe, auch die Regisseure (!) Jürgen Gosch und Fritz Marquardt; in dem Indianerkinderfilm »Blauvogel« (1979) Böwe und Jutta Hoffmann; in dem Nachkriegs- als Boxerfilm »Olle Henry« wieder Michael Gwisdek. Alles Filme, in denen es darum geht, wie wenig wir doch von uns selbst wissen. Was ist Treue und was Verrat?

»Dein unbekannter Bruder« war des Regisseurs letzter Versuch, mit einem politischen Thema durchzudringen. Aber Kunstwille, der ja immer zuallererst der Versuch ist, dem eigenen Leben eine Form zu geben, und die Formlosigkeit der herrschenden Politik – das ging in den 80er Jahren in der DDR nicht mehr zusammen. Die viel zu kurze Laufbahn eines der unbestritten talentiertesten DEFA-Regisseure gibt eine Zeugnis der für ihn nicht lösbaren Generationenfrage. Christa Wolf sagte einmal, ihre Kritik an der DDR sei lange so verhalten ausgefallen, weil sie meinte, gar nicht das Recht dazu zu haben, ein Generation der Widerstandskämpfer und Emigranten, die von 1933 bis 1945 politisch zweifellos auf der richtigen Seite standen, zu kritisieren. Die hatten doch bereits unter Lebensgefahr gegen die Unmenschlichkeit als System gekämpft und waren Verfolgte gewesen! Als sie die Scheu schließlich ablegte, 1976 mit dem Protest gegen die Biermann-Ausbürgerung, war die Chance einer wirklichen Erneuerung schon vertan.

In »Tambari« versuchen die ganz Jungen das Vermächtnis der Großeltern an der mediokren Elterngeneration vorbei zu retten. Wir erkennen darin auch die schmerzhafte Selbstkritik jener Generation des Ulrich Weiß, die in der DDR aufwuchs und heute zwischen sechzig und siebzig ist. Fernweh ist dabei ein immer präsentes Motiv – es zeigt uns jedoch sehr verschiedene Gesichter. Großzügiger denken, mehr Mut zu Utopie. Bei der folgenden jüngeren Generation, den heute Vierzig- bis Fünfzigjährigen, beginnt dann schon – vor 1989 – die innere Loslösung von der DDR. Filme, Rockmusik, Jeans, Radio und Fernsehen – der Blick ging doch immer stärker in den Westen, ohne diesen natürlich wirklich erfahren zu können. Ein ständiges emotionales wie gedankliches Dazwischenliegen: die Unmöglichkeit, sich zu identifizieren, Verhältnisse wie sie sind, schlicht zu bejahen – ein heute immer noch andauerndes Fremdheitsgefühl. Ulrich Weiß zeigt es uns in seinen großartigen, zu Unrecht fast vergessenen Filmen: Brechungen in der Biografie humanisieren diese erst.

Liegt also in unserem Verlierertum eine Chance, die Verhältnisse von ihrer unbekannten Seite zu sehen?

Filmreihe im Berliner Kino Arsenal bis zum 30.9, mit Gästen

Auf DVD erhältlich: »Dein unbekannter Bruder«, 14,99 €, »Tambari«/ »Als Unku Edes Freundin war« (2 Filme auf einer DVD), 12,75 €, »Blauvogel«, 12,75 €. Zu bestellen über ND-Shop, Tel.: (030) 2978-1654; Fax: -1650 oder E-Mail: shop@nd-online.de

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