Unter jedem Grund ein Abgrund

Wolfgang Engel inszenierte am Staatsschauspiel Dresden eine Version von Uwe Tellkamps Roman »Der Turm«

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Es gibt ein schönes Erschrecken. Dann, wenn einem die innere Sicherheit abfällt. Erschrecken bleibt es, weil ein Halt bricht. Aber das Schöne ist: Weltentdeckung – mitten in der Welt, die man zu kennen glaubte. Man glaubt doch dem eigenen Leben, wem denn sonst, aber wenn plötzlich andere Erfahrungen, Wahrnehmungen und Wahrheiten an diesen Glauben stoßen – wie ein Eisberg an verletzbares Schiffseisen, das sich stark auf gutem Kurs wähnte –, wenn also die bisherige Gewissheit absäuft, etwas sei so und nur so gewesen, wie man es selber erlebte und sah und wusste und sehen sollte, dann kommt der Mensch ins Schwimmen. Aber vielleicht entwickelt er Kraft und Lust wie nie: auf neue Ufer.

Uwe Tellkamps großer Roman »Der Turm« ist Anlass für solch schönes Erschrecken. Die DDR im Erfahrungslicht gründlicher bürgerlicher Distanz. Dresdens Villenviertel »Weißer Hirsch«: Gleichnisort für letzte Bürger im letzten Stadium des Systems. In ungeliebter Gegend aus Einheitspartei, verbrauchtem Idealismus, einer Volks-Macht, aus der sich das Volk nichts macht, und millionenfach kleinem Exil in der Anpassung. Oder im Turm. Ort? Haltung.

Ein Zuhause, in dem »ein weiser Mann am besten mit gesenktem Kopf, fast unsichtbar, wie Staub geht«. Hochgemute Geistesfeier in fiebrig geschützter Enklave, die über allem thronte. So gedieh droben zwar der Hochmut, aber die Turmlage, angeschwappt von der doktrinären Tristesse des herrschenden Geistes, entfachte eben auch partisanische Würde; und noch die Verzweiflung der dort bevorzugt lebenden Einwohner sandte dem versumpfenden Land Zeichen: Der Mensch lässt sich auf Dauer nicht vergesellschaften!

Wer ging so durch sein DDR-Leben, wer nicht? Das schöne Erschrecken könnte man auch Neugier nennen: Wie gehe ich um mit einer geradezu leidenschaftlichen Abkehr des Romans von der DDR, wenn doch mein eigenes Leben bis 1989 so ganz anders verlief? Wie bringt der Mensch zur Einheit, dass ihm niemand die Biografie nehmen kann, aber mit der Mauer auch die begrenzte Deutungshoheit über die verpuffte Gesellschaftsordnung Ost verloren ging? Jetzt liegt alles frei, jeder Sinn und Unsinn, den man übers Gestern verbreiten kann. Unterscheidungsvermögen ist gefragt. Das ist die wahre neue Freiheit.

In Dresden inszenierte Wolfgang Engel eine Bühnenfassung des Romans, erarbeitet von Armin Petras und Jens Groß. Der Turm im Staatsschauspiel ist ein Turm, im nacktesten Sinne. Er ist im Bühnenbild von Olaf Altmann nackte Stellage. Keine Villen, märchengleich umrankt. Kein Goethescher Impetus: »Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt,/ zum Turme geschworen, gefällt mir die Welt.« Höhe ja, aber nichts Erhabenes.

Der Turm ist Gerüst. Ausmagerungszeichen. Drei Etagen, jede Etage hat drei Balkons, dazwischen Leitern. Alles auf Fluchtweg und Durchlässigkeit angelegt, keine Einsicht ist versperrt, Aussichten schon eher. Die Menschen stehen und bewegen sich im Abrissrest einstiger Betonburgen. Unvollendet. Die neue Welt: nur noch Skelett.

Über drei Stunden dauert der Abend. Er ist Chor, Monolog, Dialog, Streitrunde, ist gehetztes Klettern auf den Leitern, ist ein fortwährender Positionswechsel auf den neun Balkons, er ist ein nie zur Ruhe kommendes Tableau der lauten Reflexion, der stillen Zwiesprache, des trotzigen Schweigens; alle Menschen hier sirren und suchen, ein kleines Volk der Ameisen, mit dem kein großer Staat zu machen ist, der Staat ist diesen Menschen hier nur mehr und mehr eine Schicksalsbeschädigungspraxis.

Sechzehn Schauspieler in vierundzwanzig Rollen. Zwei Parallelwelten: Ein Parteisekretär trifft sich mit Schriftstellern – der Chirurg Richard Hofmann feiert 50. Geburtstag. Die Festgesellschaft verzahnt mit dem politischen Diskurs. Und ein Lebensraum offenbart seine Elementarteilchen. Da ist der sich mürbe hoffende Parteisoldat, dem just deshalb einzig nur der bellende Dogmatiker gelingen kann. Da ist der Chirurg, einst IM, deshalb jetzt erpressbar, auch weil er eine Geliebte und ein uneheliches Kind hat. Der Chefarzt, dem man nach der Pensionierung das geliebte Porzellan konfiszieren will: Selbstmord. Der Lektor, der zwar nicht selber schreiben kann, aber auch ein tolles Talent hat: zum geschmeidigsten, fast unauffälligen Opportunismus. Der zynische Dichter-Dandy, eine Peter-Hacks-Anleihe, der mit jakobinischer Kälte Stalins Massenmörderei verteidigt. Dessen Sohn wird als Punk die Tote-Seelen-Atmosphäre erfrischend zerwüten. Da ist der Ökonom, dessen alternatives Zürnen über die Planstarre an Bahro erinnert. Zwei Stasi-Spitzel – Bundjäckchen und Gelenktasche – erscheinen als strahlendes Jungenpaar, scheinbar unbedarft, betont gesichtsoffen an anderen Seelen knabbernd. Und Tellkamps Hauptgestalt, der Sohn des Chirurgen, geht von wachem Realitätsblick über bitterste NVA-Erfahrungen den traurigen, aber geläufigen Weg zu den Gleichgeschalteten.

Dann ist da noch die schöne Schriftstellerin, die aus dem Verband gejagt wird, weil sie im Westen veröffentlichte – am Ende wird sie unter den Balkons, unter Decken, quasi im Untergrund des Unglücks, mit den Fingern den Bühnenboden bekritzeln. Ein Mensch, auf den harten Boden der Tatsachen gezwungen, und Engel inszenierte: Man muss schon genau hinsehen, wenn man's überhaupt bemerken will. Man muss das Unglücklichsein sehen wollen, wenn ringsum Glück dröhnt. Das ist Arbeit – an sich selber.

Die Inszenierung behauptet eine berührende, nachstörende Wahrhaftigkeit. Das kluge, inniglich verquickte Miteinander und Gegeneinander der Figuren, dieser Abgekühlten oder Überhitzten, hebt jede einseitige Position auf im Part oder Widerpart anderer Gestalt. So stehen sie auf den Balkons: Unter jedem Grund ein Abgrund. Theater als ein von Schmerzfragen getriebener Verständigungsversuch. So erzählt der Abend, über die Dresden-kleine DDR hinaus (ohne sie je zu verlassen): Mit der Idee der Geschichte hängt das Relative aller Werte und Überzeugungen zusammen. Dinge mit beschränkter Geltung. Nichts ist abzulösen von Unsicherheit und Unstetigkeit. Leben aus einem Guss funktioniert nur um den Preis des Fundamentalistischen.

Wolfgang Engel gehörte zu denen, die im »t« 1989 in Dresden auf offener Bühne sagten: »Wir treten aus unseren Rollen heraus.« Er lässt die Aufführung mit Opferprotokollen aus jener Oktober-Nacht enden, da die Züge von Prag in den Westen fuhren. Ein Chor. Nur die Hacks-Kopie, der Weltgeist als Dandy, schweigt. Mitten im Satz bricht der Chor ab. Schönes Erschrecken: Aller Bericht ist nur Fragment, alle Erzählung hat tausend mögliche Enden, weil sie noch mehr unterschiedliche Anfänge hatte. Tellkamp bleibt auch auf der Bühne ein Ereignis.

Nächste Vorstellung: 13.10.

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