Wasser, Wellen und viel Zeit
Mit dem Frachtschiff in 60 Stunden von Lübeck nach St. Petersburg
Entspannt sitzen wir im Restaurant der »Transeuropa« im Lübecker Hafen und warten, dass das Abenteuer endlich beginnt. Das Gepäck ist in der geräumigen Kabine verstaut, der erste Blick nach draußen zeigt noch das ruhige Wasser der Trave. Als Kapitän Frank Pretory das Schiff zu später Stunde am Lichtermeer der Hafenpromenade von Travemünde vorbeisteuert, stürmen alle an Deck. Nun geht es Richtung Ostsee. 60 Stunden lang nur Wasser und Wellen. Und Zeit. Viel Zeit. Genug, um sich den Wind um die Ohren wehen zu lassen oder sich mit einem Roman von Puschkin auf St. Petersburg einzustimmen. Auf dem Weg dorthin stoppt der Frachter bei Bedarf in Sassnitz-Mukran und im lettischen Ventspils. Internet gibt es an Bord nicht, und auch das Handy ist auf dem Meer oft »außer Dienst«.
*
Das Schiff der Reederei Finnlines ist schnell erkundet. Es gibt sieben Decks, die drei unteren sind während der Überfahrt dicht. Dort stehen die Autos, meist riesige Trucks. Auf den anderen sind Kabinen für 114 Passagiere, Bordrestaurant, Bar, eine Sauna, Whirlpool, ein Schwimmbecken für Kinder, eine Kinderspiel- und eine kleine Fitnessecke. Den Anzug und das Abendkleid kann man getrost zu Hause lassen. Die »Transeuropa« ist, genau wie ihr Schwesterschiff »Transrussia« ein kombiniertes Fracht-Passagier-Schiff. Statt Kapitänsdinner und »Modenschau« gibt es hier Ruhe, frische Luft und Zeit für nicht alltägliche Begegnungen.
*
Auf der Brücke führt Frank Pretory das Kommando. Es herrscht Windstärke acht, die Wellen steigen 2,5 Meter hoch. Der 45-Jährige, der in Warnemünde studierte, fährt seit 1995 auf dem Schiff. Seine 22-köpfige Crew ist international – die Seeleute sprechen deutsch, russisch, türkisch und portugiesisch, untereinander verständigen sie sich in Englisch. »Außer den großen Kreuzfahrtschiffen bin ich alles mal gefahren. Jedes Schiff ist eine Herausforderung.« Auch Seekarten sind noch an Bord. Schließlich kann auch mal die Elektronik ausfallen.
Abends wacht Larissa Buck mit dem ersten Offizier auf der Brücke. Sie ist die einzige Frau der Besatzung. Larissa wuchs am Meer, in Travemünde, auf und studiert in Bremen Seeverkehrswirtschaft. Auf der »Transeuropa« absolviert sie ihr zweites Praxissemester. »Ich würde auch nach dem Studium gern auf der Ostsee fahren. Hier bin ich zu Hause. Und sie ist eine Herausforderung. Die Kadettrinne ist die meistbefahrene Wasserstraße Europas.« Auch, wenn Larissa im Pazifik schon 19 Meter hohe Wellen erlebte, habe sie vorm Fliegen deutlich mehr Angst als auf dem Meer, verrät die 25-Jährige. Es gab aber auch schon Momente, wo sie alles hinwerfen wollte. So nach dem ersten Praxissemester, als sie recht unangenehme Erfahrungen mit einem frauenfeindlichen ukrainischen Offizier machte. »Die Seefahrt ist noch sehr männerdominiert, doch es passiert was«, ist Larissa optimistisch.
*
Abends sitzen wir mit Wladimir Kalina und Grigori Zelitschin an der Bar. Die beiden Trucker sind Russen, leben in Riga und fahren für eine lettische Firma. »Die Trucker sind auf dem Schiff wie eine Familie, auf der Straße sind wir allein«, schätzt Wladimir die Seereise. Und sie erspart lästige Grenzkontrollen. Zweimal im Monat sind sie auf der »Transeuropa«. Für den 50-jährigen Grigori bedeutet die Arbeit sein Leben. Seit dem Tod seiner Frau hält er es zu Hause kaum länger als zwei Tage aus. Die Familie des 45-jährigen Wladimir ist in alle Winde zerstreut – England, Irland, Lettland. »Auch das sind Folgen unseres Berufes.« Natürlich gebe es auch mal Zoff, wenn man drei Tage auf der Fähre ist. »Denn da wird auch mal zu tief ins Glas geschaut. Doch Barkieper Alex ist sehr einfühlsam und schlichtet manchen Streit, bevor er eskaliert«, sagt Wladimir.
*
Der 29-Jährige Alex Fischer ist Sohn eines Seefahrers und fährt seit neun Jahren auf dem Schiff. Er spricht dänisch und schwedisch, das hat er sich selbst angeeignet. Russisch kann er (noch) nicht, aber durch seine offene, herzliche und wenn nötig auch resolute Art kommt Alex auch mit den Raubeinen unter den Truckern gut zurecht. An seiner Bar sitzen auch Claudia und Sebastian Wiesing. Für die beiden Münchner beginnt auf dem Schiff eine neun Monate lange Reise nach Asien und Australien, mit der sie sich einen Lebenstraum erfüllen wollen.
*
Die letzte Nacht an Bord wird kurz. Gegen drei Uhr kommt, sechs Seemeilen vor Kronstadt und von den Passagieren unbemerkt, der Lotse an Bord. Und kurz vor sechs Uhr legt die »Transeuropa« im Fährhafen von St. Petersburg an. Dann gegen sechs ein resolut-zaghaftes Klopfen an der Tür. Eine freundliche Grenzpolizistin macht »Gesichtskontrolle« und nimmt den Pass mit. Nach dem Frühstück gibt es das Dokument zurück, und für uns beginnt das kleine Abenteuer St. Petersburg, für Sebastian und Claudia Wiesing das große Abenteuer Weltreise. Wir wollen zwei Tage lang St. Petersburg erkunden, während Claudia und Sebastian in der Transsibirischen Eisenbahn ihrem nächsten Ziel, dem Baikalsee entgegenrollen.
- Buchung und Information: Finnlines-Passagierdienst, Einsiedelstraße 43-45, 23554 Lübeck. Tel.: (0451) 1507 443, Fax: (0451) 1507 444, E-Mail: passagierdienst@finnlines.com, Internet: www.finnlines.de. Bei Finnlines erhalten Sie auch Informationen zur Organisierung von Ausflügen in St. Petersburg.
- Finnlines verkehrt zweimal pro Woche zwischen Lübeck und St. Petersburg. Abfahrt in Lübeck: Mittwoch und Sonnabend jeweils 19 Uhr. Aufenthalt in St. Petersburg bei Abfahrt am Sonnabend zwei Tage – das Schiff wird dabei als Hotel genutzt –, bei Abfahrt am Mittwoch einen Tag. Die Reise ist auch für eine Strecke buchbar.
- Für die Einreise ist ein Visum nötig. Der Reisepass muss noch mindestens sechs Monate gültig sein. Finnlines vermittelt die Visabeschaffung. Es kann auch bei Russlands Botschaft in Berlin oder einem Konsulat beantragt werden. (www.russische-botscaft.de; Tel.: (030) 229 11 20 bzw. -29; Fax: (030) 229 93 97).
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.