Die verlorene Welt der Blasket Islands

Drei Meilen vor der irischen Küste liegt eine Geisterinsel mit einem riesigen literarischen Schatz

  • Anja Steinbuch und Michael Marek
  • Lesedauer: 8 Min.
Great Blasket, die wohl berühmteste Geisterinsel Irlands
Great Blasket, die wohl berühmteste Geisterinsel Irlands

Dún Chaoin an der irischen Westküste: Das schwarze Schlauchboot der »Laird of Staffa«, eine Mischung aus Fischkutter und Ausflugsdampfer, holt uns vom kleinen Pier des 180-Seelen-Dorfes ab. Wir tragen rote Schwimmwesten, der Atlantik schaukelt heftig. Der Skipper steht im Ruderhaus am Steuerrad und hält Kurs auf das offene Meer. In der Ferne erscheint eine zerklüftete und baumlose, aber grüne Insel. Great Blasket, die wohl berühmteste Geisterinsel Irlands, ist über fünf Kilometer lang und einen Kilometer breit. Die Überfahrt dauert fünfzig Minuten – doch es ist eine Zeitreise.

Über mehrere Hundert Jahre hatten Menschen hier eine Heimat. Noch im 20. Jahrhundert lebten sie völlig unberührt von modernen Einflüssen: ohne Radio, Strom und fließendes Wasser, eine Insel, auf der es keine Läden und keine Handwerker gab, wo nur überleben konnte, wer geschickt in allen möglichen Arbeiten war. Immer von Stürmen gebeutelt und vom Hungertod bedroht. Doch das ist Geschichte. Heute lebt niemand mehr hier, nur ein paar Grundmauern verlassener Höfe stehen noch. Bewohnt waren die Inseln bis 1953.

Am Mini-Anleger von Great Blasket wird unsere Besuchergruppe ausgebootet. Wanderschuhe mit Profil sind hier Pflicht. Der Felsen ist nass von der Gischt, die Wiese weiter oben wellig und von Kaninchenbauten durchlöchert. Vom Anleger geht es 50 Meter bergauf bis ins Geisterdorf. Von 30 einst bewohnten Häusern sind einige renoviert und weiß gestrichen. Zwei dienen als Gästehäuser, eines als Café, ein weiteres als Unterkunft für die Inselführer. Das berühmteste Haus wurde nach historischen Plänen wiederaufgebaut. Und alle Besucher wollen es als Erstes sehen.

Pflichtlektüre von der Geisterinsel

Hier schrieb der Fischer, Bauer und Schriftsteller Tomás Ó Criomhthain (Englisch: Thomas O’Crohan) über das Inselleben. Der bekannteste Roman aus seiner Feder, »Die Boote fahren nicht mehr aus« aus dem Jahr 1929, gilt als bedeutendes Werk der irischen Literatur. Jedes Kind in Irland kennt es als Pflichtlektüre aus der Schule. Es wurde in zig Sprachen übersetzt, unter anderem ins Deutsche von Annemarie und Heinrich Böll. Der Literaturnobelpreisträger und Irland-Fan besaß in der Nähe, auf Achill Island, ein Ferienhaus, lebte und arbeitete dort. Ob er jemals auf Great Blasket war, weiß niemand. Aber mit seinen kraftvollen, lebendigen Bildern war Ó Criomhthain für Böll eine authentische Stimme – die ganz anders klang als jene im geschichtsvergessenen Nachkriegsdeutschland.

Tomás Ó Criomhthain ist nur einer, aber sicher der berühmteste jener Inseldichter, die über 40 Romane und Erzählungen hinterlassen haben. Weltrekord – denn kein anderer Ort auf diesem Planeten weist, bezogen auf die Zahl seiner Einwohner, eine derartige Buchproduktion auf. Manche dieser Werke sind zu Klassikern der irischen Literatur geworden – wie auch Maurice O’Sullivans »Das Meer ist voll der schönsten Dinge. Eine irische Lebensgeschichte«.

Heute ragen die verbliebenen Grundmauern der Blasket-Behausungen aus Feldsteinen und Mörtel trotzig-stolz in den blauen irischen Himmel. Der Blick von hier oben über grüne Hügel auf einen mehr als 200 Meter breiten Sandstrand mit Seehundkolonie und auf den dunkelblauen Atlantik hält uns gefangen. 1916 wohnten hier 25 Familien, insgesamt 179 Menschen.

Familiengeschichten in Wände eingeritzt

Muireann Ní Chearna, Enkelin einer der Bewohner, führt durch das verlassene Dorf. Sie arbeitet für das Blasket Centre gegenüber der Insel in Dún Chaoin. In der Mitte des Dorfes bleibt sie vor einer Ruine stehen, dem Haus ihrer Familie. Great Blasket ist für sie nicht einfach Geschichte, die Insel ist Teil ihrer Familienbiografie. »Im Haus zünden wir immer ein Feuer an, wenn jemand aus unserer Familie gestorben ist.« Die Wände mit den eingeritzten Namen und den Daten bezeugen das: Mícheál, Peaidí, Máirtin, Team, Muiris – alle heißen Ní Chearna. Ihre großen braunen Augen füllen sich mit Tränen.

Auch Muireanns Familie blieb von Tragödien nicht verschont. Der Sohn der Urgroßeltern starb an Meningitis, denn niemand auf der Insel kannte die Krankheit oder konnte sie behandeln: »Mein Urgroßvater hat immer gesagt: Nicht die Meningitis hat Seáinín umgebracht, sondern die Behörden, die ihn im Stich gelassen haben.« Der Großonkel wurde nur 24 Jahre alt, sein Tod liegt schon Jahrzehnte zurück, aber hier in der fensterlosen Ruine ohne Dach sind die Geister der Vergangenheit noch immer lebendig.

Die Hälfte der Familie Ní Chearna emigrierte Anfang der 1950er Jahre nach Springfield, Massachusetts. Links war die Feuerstelle, an der »meine Großmutter Gemüse und manchmal Fisch gekocht hat«, erklärt Muireann, darüber trockneten die Fischernetze und die Kleidung. »Gegenüber stand ein Sofa, auf dem auch geschlafen wurde. Im Nebenraum standen weitere Betten.« Mehr gab es nicht.

»Menschen wie uns wird es nicht mehr geben«

Bis 1953 lebten ihre Vorfahren unter einfachsten Bedingungen. »Sie waren vom Festland total abgeschnitten. Wenn sie einen Arzt oder einen Priester brauchten, mussten sie ans Land rudern und kilometerweit in die nächste Stadt laufen«, erklärt Muireann. Doch sie schafften es, dem fruchtbaren Eiland genügend abzutrotzen, um zu überleben. Und mehr als das.

Sie pflegten ihre Sprache und ihre Geschichten: von tollkühnen Meeresfahrten und Jagden, von Festen mit Spiel und Trunk, von Jubel und Trauer, von bitterem Hunger, wenn der Fischfang missglückte, von Saus und Braus, wenn der Wind das begehrte Strandgut eines verlorenen Schiffes an die Insel spülte. Sie sprachen ein reines Irisch. Und sie erzählten so gut, dass Gelehrte vom Festland kamen und sie anspornten, ihre Geschichte so aufzuschreiben, wie sie diese auch mündlich über ihre Inselwelt erzählten. Tomás Ó Criomhthain musste dafür erst lernen, Irisch zu schreiben, denn seit Einführung der Schulpflicht 1830 war Englisch die Landessprache. Er nahm das Ende der Gemeinschaft voraus, als er schrieb: »Ich habe mein Bestes getan, die Eigenart der Menschen festzuhalten, denn Menschen wie uns wird es nicht mehr geben.«

Die Abgeschiedenheit der Großen Blasket-Insel sorgte dafür, dass sich dort nicht nur die archaische Lebensweise, sondern auch Traditionen länger hielten als anderswo in Irland. Auf der grünen Insel wurde das schönste Irisch gesprochen. Als im 20. Jahrhundert der Fortschritt auf dem Festland gegenüber den Blaskets Einzug hielt, als Telefon und Radio, Krankenhäuser und Autos für immer mehr Menschen zur Selbstverständlichkeit wurden, schien in Blasket die Zeit stillzustehen. Bis zum Ende gab es keine Elektrizität, nur Petroleumlampen und Kerzen spendeten Licht. Wärme kam vom Torffeuer im offenen Kamin.

Geräumt von den irischen Behörden

In den 1940er Jahren bekamen die Bewohner eine Telegrafie-Anbindung für Notfälle. So auch 1947, in dem Jahr, als das letzte Kind der Insel zur Welt kam: »Vom Sturm abgeschnitten – in Not – nichts mehr zu essen – schickt Lebensmittel – Blaskets«. Am höchsten Punkt, in der Mitte der Insel, steht die Ruine eines Signalhauses. Rundherum liegen die Feldsteine, das Baumaterial der Insulaner. Wer hier umherspaziert, stolpert über die Reste eines Schriftzuges. Während des Zweiten Weltkriegs hatten Bewohner mit weißen Steinen in fünf Meter großen Lettern das Wort »EIRE« gelegt, um den Bombern und Tieffliegern zu signalisieren, dass sie sich über einem neutralen Land befanden.

Die letzten 22 Bewohner verließen am 17. November 1953 die grünen Felsbrocken im Atlantik. Die irischen Behörden hatten die Insel räumen lassen – wegen der unmenschlichen Lebensbedingungen, wie es offiziell hieß. Zehn Jahre zuvor hatte der letzte Lehrer die Insel verlassen. Die Blasket Islander nahmen alles mit: Möbel, Hausrat, Werkzeuge, sogar Türen. Sie ließen ihre Häuser zurück – und ihre Kultur. Viele zog es in Richtung Vereinigte Staaten. Das 2000 Seemeilen entfernte Nordamerika lag ihnen näher als das irische Festland.

Eine Insel, auf der die Zeit angehalten hat

Jede Menge Gras ist über die Geschichte der Blasket Islands gewachsen, aber vergessen ist sie nicht. Am Dorfrand stehen heute vier renovierte Häuser mit Gästezimmern. Naturliebhaber können hier übernachten und im Café Tee mit Scones und Marmelade bestellen. Strom gibt es immer noch nicht und der Handyempfang ist alles andere als verlässlich.

Es ist dieses Gefühl der Zeitlosigkeit, das jeden ergreift, der Great Blasket besucht. Was Menschen vor 100 Jahren sahen, sieht heute (fast) noch genauso aus. Eine Insel, an der die industrielle Revolution und das Internet spurlos vorbeigegangen sind, Kultur- und Religionskämpfe, heiße und kalte Kriege, all die Wandlungen der letzten Jahrhunderte. Die Insulaner haben ein Vermächtnis hinterlassen, das die Iren stolz macht und die Literatur bis heute inspiriert.

Nach knapp drei Stunden Aufenthalt müssen wir wieder abwärts steigen zum Anleger. Unser Skipper wartet mit dem Schlauchboot. Der Wind hat zugenommen. Er kann nicht garantieren, ob er später überhaupt noch in See stechen kann. Die Überfahrt könnte heikel werden.

Wir stehen zum Verkauf. Aber nur an unsere Leser*innen.

Die »nd.Genossenschaft« gehört denen, die sie lesen und schreiben. Sie sichern mit ihrem Beitrag, dass unser Journalismus für alle zugänglich bleibt – ganz ohne Medienkonzern, Milliardär oder Paywall.

Dank Ihrer Unterstützung können wir:

→ unabhängig und kritisch berichten
→ übersehene Themen in den Fokus rücken
→ marginalisierten Stimmen eine Plattform geben
→ Falschinformationen etwas entgegensetzen
→ linke Debatten anstoßen und weiterentwickeln

Mit »Freiwillig zahlen« oder einem Genossenschaftsanteil machen Sie den Unterschied. Sie helfen, diese Zeitung am Leben zu halten. Damit nd.bleibt.