Ministerfrust über behütete Protestierer

De Maizière hält eine Debatte über sozial Ausgegrenzte und den Klassenkampf von oben für »den falschen Ansatz«

  • René Heilig, Wiesbaden
  • Lesedauer: 5 Min.
In Wiesbaden hatte das Bundeskriminalamt (BKA) am Dienstag und Mittwoch Sicherheitsexperten zur alljährlichen Herbsttagung eingeladen. Es ging um »Gewaltphänomene – Strukturen, Entwicklungen und Reaktionsbedarf.« Debattiert wurde über Rocker- und Bandenkriminalität, Fussball-»Fans«, es ging um Gewalt in Familien, um Kinderpornografie, um radikal-islamistische Täter, um Terrorismus, um Medien, das Internet ... Und auch ein wenig um Prävention. Wer kontroverse Debatten erhofft hatte, wurde weitgehend enttäuscht. Der Obrigkeitsstaat blieb unter sich.

»Versammlungen und Demonstrationen gehören in unserem Land zum demokratischen Alltag. Sie sind verfassungsrechtlich abgesichert und sie sind aus Gründen der Lebendigkeit unserer Demokratie auch erwünscht.« Das sagte Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) auf der zweitägigen BKA-Herbsttagung. Doch um derart Selbstverständliches zu erzählen, hatte er sich nicht auf den Weg nach Wiesbaden gemacht. Schwerpunkt der BKA-Tagung war das Thema Gewalt. Und der Minister teilte denn auch gewaltig aus. Natürlich gegen die zunehmend gewalttätigen Linksextremen. Das war zu erwarten. Und man hörte das Gewohnte. Doch der Minister nagelte auch andere ans Brett. Zunächst bekamen all jene »Weicheier« in den eigenen Reihen eins drüber, die sich darüber beschweren, dass Polizisten den Kopf für ungelöste gesellschaftliche Probleme hinhalten müssen. Die ministerielle Befehlsausgabe lautete: Weder Demonstranten noch Polizisten entscheiden über Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken, über Bahnhofsbauten oder Castor-Transporte. Das sei Sache von Parlament und Regierung. Würde man bei Demonstrationen einknicken, käme das einer Kapitulation des Rechtsstaates gleich. Was sagte Stuttgart-Vermittler Geißler – Schluss mit Basta-Politik?

Sodann wandte sich de Maizière den »erlebnisorientierten Demonstrationen« zu. Wenn in Stuttgart mehrere tausend Schüler Krankschreibungen von ihren Eltern bekamen, damit sie nicht zur Schule sondern zur Demo gingen – und das möglicherweise abgestimmt mit den Schulen – sei das »Missbrauch von Jugendlichen durch ihre Eltern«. Ähnliches wusste der Minister über Hamburger Nächte zu berichten. Da seien Männer und Frauen aus Porsches gestiegen und hätten Polizisten bespuckt. Im Schanzenviertel hätten sich Jugendliche »aus wohlbehüteten und wohlbezahlten Familien« gegen die Staatsmacht gestellt. Für den Bundesinnenminister ist das alles nur »die Sehnsucht danach, in irgendeiner Weise aus der Reihe tanzen zu können«. Man spürte de Maizières Enttäuschung darüber, was da in den eigenen Reihen nachwächst.

Was treibt eine Gesellschaft auseinander – was hält sie zusammen? Prof. Dr. Wilhelm Heitmeyer, Chef des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität von Bielefeld, schien seinen Festvortrag extra für den Minister gemacht zu haben. Er sprach über die schwindende soziale Integrationskraft unserer Gesellschaft, über deren Spaltung. Niemand werde als Gewalttäter geboren und doch gebe es immer mehr Gewalt. Wie kommt das? Heitmeyer verwies auf die unterschiedliche Teilhabe der Menschen am kulturellen und materiellen Reichtum der Gesellschaft. Immer mehr spürten, dass sie keine Stimme haben, wenn es um ihre Angelegenheiten geht. Das Selbstwertgefühl vieler in unserer immer globalisierteren und ethnisch heterogenen Gesellschaft schwindet. Über 32 Prozent der 2009 bei einer repräsentativen Umfrage angesprochenen Deutschen meinen, dass es in der Krise (und damit meinte Heitmeyer nicht die gerade überwundene Finanz-, sondern die chronische Krise des Kapitalismus) keine gleichen Rechte für alle geben könne. 61 Prozent beklagen, dass man zu viele Schwache mitschleppe. Fremdenfeindlichkeit breche sich Bahn, man rücke ab von Langzeitarbeitslosen, Behinderten und Obdachlosen.

Hintergrund sei der Wandel von der Marktwirtschaft zur Marktgesellschaft. Solidarität, Gerechtigkeit, Fairness – das war einmal. Menschen würden zunehmend nach Nützlichkeit, Verwertbarkeit und Effizienz beurteilt. »Klassenkampf von oben« gegen den Zusammenhalt des Sozialstaates ist angesagt. Heitmeyer warnte davor, die Beurteilung von Gewalttätern von dieser Realität abzukoppeln. Viel zu wenig würde die Debatte darüber geführt, in welcher Gesellschaft wir überhaupt leben wollen. Heitmeyer endete mit der These: »Wenn sich eine Gesellschaft von sozialer Sicherung zu öffentlicher Sicherheit entwickelt, dann bedroht sie sich selbst.«

Darauf angesprochen, betonte Thomas de Maizière gegenüber ND »Zweifel an dieser Analyse«. Es protestieren »oft nicht diejenigen, die sozial ausgegrenzt werden. Der Anteil von Gewalttätern unter Hartz-IV-Empfängern ist unterproportional.« Gewalt komme eher von jenen, die sich einbildeten, stärker zu sein. Die Radikalisierung im Bereich terroristischer Täter gehe auch nicht von Schwachen aus. Der Minister sieht das Phänomen der zunehmender Gewalt eher im bürgerlichen Milieu. Heitmeyers These sei zu simpel. Er stimme jedoch zu, dass an dem Phänomen Gewalt »weitergearbeitet werden muss. Das macht das BKA, das machen die Länderpolizeien, es gibt Täter-Profile bis in die Tiefe hinein. Ursachenforschung und Analyse gehören zum Handwerk der Polizeiarbeit.«

Doch genau das ist zu wenig, versteht man den Vortrag des BKA-Präsidenten Jörg Zierke am Mittwoch richtig. Er zielte beim Thema Prävention vor allem auf »einen ganzheitlichen und gesamtgesellschaftlichen Ansatz«. Gewalt, so betonte er, entwickelt sich gerade bei Jugendlichen in jenen Bereichen, die von der Gesellschaft »abgehängt« worden sind. Und das sind bereits 15 Prozent.

Er wolle nur so viele Gesetze wie nötig. Gewiss, ein löblicher Vorsatz des Bundesinnenministers. Doch wie viele Gesetze braucht der Bürger? Und welche? Minister de Maizière sieht Handlungsbedarf bei der Speicherung von Telefon- und Mobilfunkdaten: »Wir sollten ein neues Gesetz zur Mindestspeicherung auf den Weg bringen, das den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts genügt.« Dabei droht er insgeheim mit EU-Europa. Wenn man dort »spitz« bekomme, dass schwere Kriminalfälle nicht gelöst werden, weil rechtliche Grundlagen fehlen...

De Maizière will Kinderpornografie verstärkt bekämpfen. Bisher sei es zu sehr um das Löschen und Sperren zumeist vom Ausland aus verbreiteter Internet-Darstellungen gegangen. Nun will er gegen Täter direkt vorgehen. Mit verdeckten Ermittlern. Es stelle sich die Frage, ob solche Ermittler dann – was normalerweise jedem Beamten selbstverständlich verboten ist – »szenetypische Straftaten« begehen dürfen, um Täter »anzufüttern«. Folgt der Minister da dem Modell »Polizisten als Steinewerfer« bei Stuttgart 21-Demos?

Weiter gefährdet sei Deutschland durch islamistische Gewalttäter. Im Fokus stünden etwa tausend gewaltbereite Personen, darunter 130 »Gefährder«. De Maizière bekräftigte seine Linie, nur in Ausnahmefällen öffentlich vor drohenden Terroranschlägen zu warnen. »Dauernde öffentliche Warnungen halte ich nicht für hilfreich.« Das verunsichere die Bevölkerung und stumpfe sie ab. hei.

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