Wissen, was geschah

Alexander Rabinowitch über die Bolschewiki und Barack Obama

  • Lesedauer: 9 Min.
Der US-amerikanische Historiker Alexander Rabinowitch, geboren 1934 in London, emeritierter Professor an der Indiana University in Bloomington, ist Experte für die Geschichte Russlands und der Sowjetunion. Er erhielt als einer der ersten Wissenschaftler aus dem Westen Zugang zu sowjetischen Archiven, ab 1993 auch zu ehemaligen KGB-Archiven. Seine bislang nicht ins Deutsche übersetzten Werke »Prelude to Revolution« (1968) und »The Bolsheviks come to Power« (1976) gelten in der Fachwelt als Standardwerke. Dieser Tage erschien von ihm im Mehring-Verlag »Die Sowjetmacht. Das erste Jahr« (652 S., geb., 34,90 €). Das Buch beginnt mit der Bildung der Sow-jetregierung und endet mit den Feierlichkeiten zum ersten Jahrestag der Oktoberrevolution am 7. November 1918. Mit Prof. Rabinowitch sprach in Berlin Karlen Vesper.

ND: Professor Rabinowitch, Sie entstammen einer russischen Emigrantenfamilie. Zum Freundeskreis Ihrer Eltern gehörten führende Menschewiki. Sie haben Kerenskij, den letzten Ministerpräsidenten der nach dem Sturz des Zaren im Februar 1917 gebildeten Provisorischen Regierung, kennengelernt. Ihnen aber haben es die Bolschewiki angetan, jenen gilt ihr forschendes Interesse. Wie kam es dazu?
Rabinowitch: Die Bolschewiki haben dem 20. Jahrhundert ihren Stempel aufgedrückt. Kein anderes historisches Ereignis hat das vergangene Säkulum nachhaltiger geprägt als die russische Oktoberrevolution. Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, war es für mich ein langer Weg. Ich war umgeben von Menschen, die Hass auf die Bolschewiki hegten, denn jene hatten ihre Leben zerstört, sie aus der Heimat gejagt.

Auch ich war anfänglich überzeugt, dass die Oktoberrevolution das größte Desaster der Weltgeschichte sei. Bis ich an die Universität von Boston kam. Meine Professoren, empirisch arbeitende Wissenschaftler, säten Zweifel in mir. Von ihnen erlernte ich das methodologische Rüstzeug eines Historikers. Die russische Revolution stellte sich mir, je mehr ich mich mit ihr befasste, völlig anders dar. Und schließlich hat sie mich in ihren Bann gezogen und nicht mehr losgelassen.

Was sagte der Vater dazu?
Er sah es gelassen. Er war ein Naturwissenschaftler. Er starb 1973, vor der Veröffentlichung meines Lieblingsbuches »The Bolscheviks come to Power«. Das Erscheinen von »Prelude to Revolution« hat er miterlebt. In diesem Buch habe ich mich mit dem gescheiterten Juli-Aufstand in Petrograd 1917 befasst, im nachfolgenden ging es mir um die Frage, wie es Lenin und den Bolschewiki gelang, die Macht zu erobern.

Nun liegt ein dritter großer Wurf aus Ihrer Feder vor – über das erste Jahr der Sowjetmacht. Ist damit eine Trilogie komplett? Oder folgen weitere Bände?
Das hoffe ich, obwohl ich mir meines Alters durchaus bewusst bin. An »The Bolsheviks in Power. The first Year of Soviet Rule« habe ich zwanzig Jahre gearbeitet.

Und dafür ausgiebig und akribisch die Archive durchforstet.
Ich habe bereits in Sowjetzeiten die Archive in Moskau und Leningrad aufgesucht. Profitiert habe ich auch von Gesprächen und Diskussionen mit sowjetischen Historikern wie Genrich Joffe oder Taisija Pawlowna. Es hat sich über die Jahre ein Vertrauensverhältnis entwickelt, das mir Anfang der 90er Jahre, als die geheimen Archive geöffnet wurden, zugute kam. Man sah in mir einen Wissenschaftler, der ehrlich mit dem historischen Material umgeht. Und ich konnte nun überprüfen, inwiefern meine Schriften durch die Quellen bestätigt werden. Zu meiner Überraschung lag ich in den meisten Einschätzungen richtig.

Ihr Credo lautet: Erzählen, was wirklich geschah – oder, wie Leopold von Ranke formulierte, »wie es eigentlich gewesen ist«.
Oh ja, ich kenne Ranke und schätze seine Verdienste um weitmögliche Objektivität in der Geschichtsschreibung. Auch wir Historiker sind Gefangene unserer Erfahrungen. Doch man muss sich strikt auf das empirische Material konzentrieren, wenn man die Ereignisse authentisch nachzeichnen, der historischen Wahrheit so nah wie möglich kommen möchte.

Ich bin beeindruckt von der Faktenfülle in Ihrem neuen Buch.
Der Historiker hat die Aufgabe, Fakten auszugraben, zu sammeln und zusammenzufügen, so dass sich ein aussagekräftiges Panorama zum Verständnis der Geschichte ergibt. Interpretation ist nicht seine Aufgabe.

Aber Sie haben doch ein Urteil über die Oktoberrevolution?
Natürlich. Im Gegensatz zu anderen westlichen, aber auch zu einigen heutigen russischen Historikern bin ich nicht der Ansicht, dass es sich um den Putsch einer Handvoll von Verschwörern unter der Führung eines machtbesessenen Lenin handelt. Diese Behauptung ist ebenso falsch wie die Darstellung einst in der offiziellen sowjetischen Geschichtsschreibung, die das Dogma vom machtvollen Volksaufstand kolportierte.

Die Oktoberrevolution entsprang dem Unmut der Fabrikarbeiter in Petrograd, der Soldaten der Petrograder Garnison und der Matrosen der Baltischen Flotte darüber, dass ihre Forderungen von der Provisorischen Regierung nicht erfüllt wurden. Die Massen waren Krieg und Hunger leid. Die Bolschewiki versprachen Frieden und Brot.

Und sie erfüllten die Versprechen mit den ersten Dekreten der Sowjetmacht und dem Friedensvertrag von Brest-Litowsk..
Ja. Aber der Separatfrieden von Brest-Litowsk hat die bolschewistische Partei fast zerrissen. Trotzki wollte das Diktat der Deutschen nicht unterschreiben. Auch Kamenew und Bucharin lehnten es ab. Lenin drohte mit Austritt aus der Sowjetregierung. Das hat dann den Ausschlag gegeben. Die Revolution brauchte eine Atempause. Die Bolschewiki waren keine monolithische Partei. Es gab die unterschiedlichsten Auffassungen und Vorstellungen. Ebenso gab es Differenzen zwischen den Sowjets und den Bolschewki und innerhalb der Sowjets.

Auch bezüglich der bewaffneten Erhebung am 7. November 1917.
Lenin wollte die Provisorische Regierung vor der Eröffnung des II. Sowjetkongresses stürzen, Tabula rasa machen. Am Morgen des 25. Oktober, nach dem Julianischen Kalender am 7. November, besetzten Abteilungen des Petrograder Revolutionären Militärkomitees alle wichtigen Brücken, Regierungsgebäude, Bahnhöfe, Kraftwerke sowie Post- und Telegrafenämter der Hauptstadt und belagerten das Winterpalais. Kerenskij und die Seinen flohen

Das Erstaunlichste: Die am tiefsten greifende Revolution der Weltgeschichte verlief unblutig.
Es gab nur einige Opfer: betrunkene Soldaten. Der »Sturm auf das Winterpalais«, wie er in Eisensteins Film »Oktober« suggeriert wird, hat nicht stattgefunden. Das ist ein Mythos. Das Winterpalais wurde nach kurzem Kanonenbeschuss mühelos eingenommen.

Immer wieder wird von der bolschewistischen Revolution als einer von Deutschen finanzierten gesprochen. Ihr Kommentar dazu?
Nicht nur die Bolschewiki, auch andere Parteien haben Geld von den Deutschen erhalten. Deren Interesse liegt auf der Hand: den Kriegsgegner schwächen. Aber kein Geld der Welt kann eine Revolution entfachen, wenn nicht die Bedingungen dafür herangereift sind.

Lenins Hoffnung auf die Weltrevolution und vor allem die deutsche Revolution erfüllte sich nicht.
Das war die große Tragödie. Die Bolschewiki blieben auf sich allein gestellt, dem Schicksal überlassen.

Dem Schicksal? Waren nachfolgende Deformierungen, der »Rote Terror« und die Stalinsche Diktatur schicksalshaft, zwangsläufig?
Natürlich nicht. Es hat immer Alternativen gegeben. Zum »Roten Terror« der ersten Jahre der Sowjetmacht muss man bemerken: Da war zunächst der Weiße Terror, und es gab die Intervention.

Mich interessierte vor allem, wie es dazu kommen konnte, dass eine Partei wie die Bolschewki, die anfangs sehr offen, pluralistisch und demokratisch war, im Februar/März 1917 nur 3000, im Juni/Juli des Jahres bereits 30 000 Mitglieder zählte, sich innerhalb kürzester Zeit in eine autoritäre, streng hierarchisierte und zentralisierte Organisation verwandeln konnte. Wie konnte es dazu kommen, dass die Ideale der Bolschewiki von einer egalitären, demokratischen, sozialistischen Gesellschaft so ausgehöhlt wurden?

Und warum sich Stalin durchgesetzt hat – gegen populäre und prominente Gestalten wie Bucharin, Trotzki, Preobrashenski oder Radek und andere?
Auch das. Ich bin übrigens nicht der Ansicht, dass Stalin ein Produkt von Lenin ist. Stalin hat sich nach dessen Tod gern als dessen Schüler und engsten Mitstreiter ausgegeben, der er aber nicht war.

Auch als Macher der Revolution.
Lenin war der große Stratege der Revolution, Trotzki der General. Stalin war 1917 ein Nobody, ein Niemand. Lenins Fehler war es, ihn zum Sekretär der Partei zu bestimmen, ein in Lenins Augen unbedeutender Posten. Doch Stalin hat es verstanden, diesen zu einem bedeutenden aufzublasen. Er hat einen gewaltigen Apparat aufgebaut und diesen mit hörigen Leuten besetzt. Das hat ihm zu uneingeschränkter Machtfülle verholfen.

Können sich Revolutionen wie die am Anfang des 20. Jahrhunderts wiederholen?
Ich bin Historiker, kein Prophet.

Ist das, was sich seit einigen Jahren in einigen lateinamerikanischen Staaten vollzieht, einer Revolution vergleichbar?
Für Revolutionäre mögen die dortigen Vorgänge hoffnungsvolle Vorzeichen sein. Tatsache ist, dass die dort Unterdrückten sich nicht länger unterdrücken und die Lösung der sie bedrückenden Probleme selbst angehen wollen.

Um den Sozialismus des 21. Jahrhunderts zu gestalten?
Ich bin kein Marxist. Auch kein Trotzkist. Ich bin eine Archivratte.

Aber doch auch politisch verortet? Wo, wenn man fragen darf?
Ich bin ein Obama-Demokrat. War dies aber vor zwei Jahren mehr als heute. Ich bin enttäuscht und frustriert, wie sich die Dinge seither entwickelt haben.

Was Barack Obama vor zwei Jahren begann, kam manchem in den USA einer Revolution gleich.
Es war in gewisser Weise revolutionär, dass er es geschafft hat, die Massen wieder für Politik zu interessieren. Auch Studenten, die sich vorher politisch enthalten haben, standen Schlange vor den Wahlbüros. Es gab eine große Begeisterung für den ersten afro-amerikanischen Präsidenten. Aber Obama hat zu viele Probleme zu lösen. Die Versprechen waren nicht einzuhalten. Nun zahlt er den Preis, zahlen wir alle den Preis.

Es ist also vorbei?
Ich bin hoffnungsvoll. Andere Präsidenten haben nach zwei Jahren auch einen Rückschlag erlitten und sich davon dann wieder erholt. Wenn die ökonomische Lage sich verbessert, hat Obama vielleicht wieder eine Chance.

Für die Tea Party-Leute scheint Obama der Beelzebub zu sein. Was ist das für eine Partei?
Das ist ein Mischmasch. Hier finden sich alle zusammen, die mit ihrer derzeitigen Lage unglücklich sind, entweder, weil sie immer noch arbeitslos sind oder meinen, es gebe zu viel Staat, oder Privilegien zu verlieren glauben. Die wirklich ernsten Gegner von Obama sind die streng Konservativen. Sie lehnen jegliche Programme für soziale Sicherheit ab. Deshalb beschimpfen sie ihn als Sozialisten. Das genügt, um Amerikaner in Angst und Schrecken zu versetzen. Anders als in Europa ist Sozialismus in den USA ein schmutziges Wort. Ähnlich wie Obama erging es Roosevelt mit seinem New Deal.

Was sagen Sie zur Gleichsetzung von Auschwitz und Gulag? Und dazu, dass der Kommunismus den Faschismus hervorbrachte?
Erstens: Gulag und Auschwitz kann man nicht gleichsetzen. Beides war sehr sehr schlimm. Der Gulag diente der Ausschaltung vermeintlicher politischer Gegner, die Todeslager der Nazis der Eliminierung einer »Rasse«. Zweitens: Mit der Beschwörung einer angeblich roten Gefahr aus dem Osten haben die Nazis sich an die Macht gelogen. Die Kommunisten sind nicht für den Faschismus und dessen Verbrechen verantwortlich.

Um noch einmal auf Ihre Eltern, Eugen und Anna Rabinowitch, zurückzukommen. Sie lebten eine Weile in Berlin, einst eine Metropole der russischen Emigration.
Ja, mein Vater war an der Berliner Universität mit Albert Einstein, Max Planck und Max von Laue, danach am Kaiser-Wilhelm-Institut für Physikalische Chemie und ging dann nach Göttingen zu James Franck. 1932 heiratete er meine Mutter, Ukrainerin und erfolgreiche Theaterschauspielerin. Als die Nazis an die Macht kamen, mussten sie emigrieren. Juden waren nicht mehr gelitten. Meine Eltern gingen über Kopenhagen nach England, wo mein Vater an der Londoner Universität lehrte. 1938 übersiedelten sie in die USA. Dort arbeitete mein Vater am Manhattan-Projekt mit.

Am Bau der US-Atombombe.
Er war strikt gegen deren Abwurf auf Hiroshima und Nagasaki. Er gehörte zu jenen, die im Franck-Report die Regierung davor warnten. Und er gehörte der von Bertrand Russel gegründeten Pugwash-Bewegung an. Mein Vater hat seine wissenschaftliche Karriere der Aufklärung und dem Appell an Vernunft und Verantwortung hintan gestellt, war Mittler zwischen russischen und amerikanischen Wissenschaftlern.

In diesem Sinne sind Sie in seine Fußspuren getreten.
Ich beherrsche aber leider nicht 13 Sprachen wie er.

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