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Wie ein Trichter in die Seele

Helma Sanders-Brahms über Märchen, Apfelbäume, die DEFA und die Kellnerin in ihrem Lieblingslokal

  • Lesedauer: 9 Min.
Vierter Stock, kein Fahrstuhl, ich falle fast in die Wohnung. Wir müssen beide lachen. Dann gibt es Tee aus einem Samowar, Fotos und Geschichten aus sieben Jahrzehnten über eine schöne junge Frau aus Emden, die berühmt werden wird. Zwischen Damals und Heute liegen Arbeit und Leidenschaft, Freude, Ruhm und Verrisse, Preise, Schmerz und Eigensinn. Sie hat über 25 Filme gemacht. Heute, am 20. November, wird sie 70 Jahre. Die Zeit ist wie im Film vergangen. Gute Wünsche und Danke für das Gespräch – Burga Kalinowski besuchte die Regisseurin und Autorin Helma Sanders-Brahms.

ND: Was wird Dein nächster Film?
Sanders-Brahms: Darüber möchte ich nicht sprechen. Ich bin da noch sehr tief im Graben in meinem Inneren und am Arbeiten. Wenn ich das so ans Tageslicht zerre, geht es kaputt.

Aber Du würdest gern einen Film machen.
Natürlich. Ich habe Ideen und vier Drehbücher. Aber kaum noch Chancen, Filme machen zu können.

In einem Artikel über Dich stand: Im Ausland weltberühmt, in Deutschland nahezu unbekannt.
Stimmt. Der Film »Deutschland, bleiche Mutter«, 1980 auf der Berlinale uraufgeführt und hier von der Kritik verrissen, wurde von New Yorker Filmkritikern zum Klassiker des Weltkinos gewählt. Zur Erstaufführung in Paris lief er 72 Wochen. Andere Filme liefen in Cannes, wurden in London, Stockholm, Kairo gefeiert. »Apfelbäume« zum Beispiel war ein großer Erfolg in Tokio.

»Apfelbäume« spielt in der Nachwendezeit.
Das ist die Geschichte von den Apfelbäumen im Havelgebiet, die nach der Wende rausgerissen wurden – Zehntausende Apfelbäume! Das beschreibt auch, wie Menschen herausgerissen worden sind aus ihrem Leben. Ihren Platz verloren haben. Ihre Wurzeln. Den Film hab ich 1990 angefangen, und 1991 ist er in Cannes gelaufen.

Wann kam der Film zu Dir?
Als ich zehn Jahre war, schickten meine Eltern mich sonntags in Märchenmatineen, und eines Tages sah ich einen Film, der war so, dass ich dachte, so müssen Filme sein. Und ich sehe mich noch – ein kleines mageres Mädchen – an die Kasse gehen und an der Frau dort rumzerren und sagen: Ich muss unbedingt den Mann sprechen, der das gemacht hat.

Welcher Film war das?
»La Belle et la Bète« – Die Schöne und das Biest von Jean Cocteau, dieser poetische Film mit Jean Marais und Josette Day. Ich glaube, damals habe ich den Entschluss gefasst, Filme zu machen.

In Deinen Filmen sind auch Märchen .
Sie haben so eine untergründige Bedeutung. Zum Beispiel fängt »Shirins Hochzeit« mit dem Märchen vom Eisernen Berg an. Das ist die deutsche Industriegesellschaft, in der sich Shirin, die aus einem anatolischen Dorf kommt, zu Tode quälen lässt. Und in »Deutschland, bleiche Mutter« gibt es dieses berühmte Mittelstück: Mitten im Film erzählt die Mutter dem Kind fast zehn Minuten lang das Grimmsche Märchen vom Räuberbräutigam, und sie gehen durch Ruinen, durch einen zerstörten Wald, sie sitzen an einem Ofen, der aussieht wie ein Auschwitzofen. Da wollten alle, dass ich das wegschneide. Es ist aber das Herz des Films. Wenn man es rausnimmt, fällt der Film zusammen. Jede Filmszene muss mehr bedeuten als nur das, was sie abbildet, sie muss wie ein ungeheurer Trichter in die Seele gehen.

Kino der Gefühle.
Ja, unbedingt. Ich habe Film- machen wie einen religiösen oder einen blasphemischen Akt gesehen. Damit hat ja auch meine Beziehung mit Pasolini angefangen. Ich habe ihn gefragt, ob er glaubt, dass diese Arbeit eine göttliche oder eine teuflische ist. Damit hatte ich sofort sein Interesse gewonnen. Ich glaube, die Frage traf so in das Zentrum seines Denkens, dass er mich eingeladen hat, bei den Dreharbeiten von Medea dabei zu sein.

Wie kam es zu der Begegnung?
1968 jobbte ich beim WDR. Im Sender gab es das Projekt, Interviews mit italienischen Regisseuren zu machen. Ich sagte, ich kann italienisch, was ich zu diesem Zeitpunkt nicht konnte. Ich bin genommen worden und habe dann italienisch gebüffelt. Ich habe es so gelernt, dass ich mit Pasolini richtig reden konnte. Ich habe noch andere Regisseure interviewt, Sergio Corbucci zum Beispiel, den Regisseur von Django. Von beiden habe ich Film gelernt und bin gleich in diesem internationalen Business drin gewesen. Großes Glück für eine Anfängerin. Insgesamt war 1968 eine wichtige Zeit, weil auch die Gesellschaft endlich in Bewegung kam.

Hast Du daran teilgenommen?
Ich bin kein wirklicher Parteigänger gewesen. Ich studierte damals an der Kölner Uni, ich habe in einer Wäscherei gearbeitet, Hemden gebügelt, und ich war Verkäuferin im Warenhaus. Meinen ersten Film habe ich über eine Verkäuferin gemacht, ein kleiner Dokumentarfilm. Der brachte mir zwei Preise in Oberhausen ein. Oberhausen war unser Leipzig. Aber mehr noch als das Dokfilmfestival in Leipzig war Oberhausen eine Anti-Sache. Da trafen sich die, die das verstockte und vermuckte Westdeutschland nicht hinnehmen mochten.

Was war für Dich wichtig?
Der künstlerische und politische Aufbruch. Ich war nebenbei Ansagerin und von null auf hundert plötzlich ein Star. Dann kamen auch gleich Fotografen, darunter der berühmte Charles Wilp, ein Schüler des Fotografen Man Ray. Wilp hat diese Afri-Cola-Werbung gemacht. Im März '68 nahm er mich mit nach Moskau, weil er mich für eine Linke hielt. Er hatte eine Einladung vom Handelsministerium. Die hatten sich in den Kopf gesetzt, er sollte, weil er die Afri-Cola-Werbung gemacht und damit 20 Prozent Marktanteil erobert hatte, nun eine Werbung für Kwass machen. Sie meinten, Kwass wäre auch viel gesünder als Coca-Cola.

Wahrscheinlich ist das so.
Es schmeckt auch besser. Wilp sollte das also machen. Man muss sich das vorstellen in diesem Handelsministerium: Wilp ging ja immer in so einem gelben Warnanzug für Atommeiler, und um ihn rum dann diese Mädchen wie ich – mager, langbeinig und hochgestylt, und so gingen wir da runter auf diesem Flur, und die Funktionäre steckten ihre Köpfe aus den Türen raus. Mit der Werbung ist es dann nichts geworden. Schade. Den Ausweis mit dem Stempel drin habe ich immer noch: März '68. Kurze Zeit später, als wir wieder in Berlin waren, da waren die Schüsse auf Rudi Dutschke. Im April die Schüsse in Amerika auf Martin Luther King. Und einen Monat später in Paris die Maidemos, und der Prager Frühling war auch. Eine unglaubliche Zeit!

Hatte das Einfluss auf die Filme?
Ja, an dem Film »Die letzten Tage von Gomorrha« ist zu sehen, wie sehr mich das berührt hat. Der Film zeigt das Endzeitstadium unserer verwahrlosten Gesellschaft: Misstrauen, Müll und Manipulation. Kämpfe. Dafür habe ich die Bilder von '68 verwendet.

Welche Erwartungen hattest Du damals?
Ich hätte so gern eine Hoffnung auf eine bessere Welt gehabt. Deshalb hatte Wilp mich mitgenommen nach Moskau, weil er mir zeigen wollte, so schön ist es da nun auch wieder nicht. Und jetzt leben wir unter dem Primat des Geldes und im rasenden Stillstand.

Warum hast Du »Deutschland, bleiche Mutter« gemacht?
Als ich schwanger war, war klar: Ich muss unbedingt einen Film machen über mein Land, meine Mutter, meinen Vater. Mein Land ist für mich zunächst einmal meine Mutter und mein Vater, alles andere ist Historikergewäsch. Historiker tun immer so, als könnten sie die Geschichte objektiv deuten. Das ist einfach gelogen. Dem wollte ich radikal was entgegensetzen. Man kann eine Geschichte, wenn es eine deutsche Geschichte ist wie diese, nur mit allergrößter Aufrichtigkeit von sich selbst her erzählen.

Welche Schauspielerin wolltest Du für diese Rolle?
Jemand Besonderes. Eines Tages flog ich nach München, und meine kleine Tochter krabbelte auf den Sitz hinter mir. Als ich mich umdrehte, saß sie auf den Schoß von Eva Matthes. Als wir landeten, habe ich zu Eva gesagt: Wenn Du das schaffst, acht Kilo abzunehmen, dass du in die Kleider meiner Mutter passt, dann habe ich eine ganz tolle Rolle für dich. Und da sagte Eva zu mir, mache ich – und nach vier Wochen passte sie in die wahnsinnig schmalen Kleider meiner Mutter.

Du sagst oft, meine Schauspieler, meine Schauspielerinnen?
Eva Matthes, Ernst Jacobi, Lena Stolze, Martina Gedeck ... sie sind mir ganz nah. Es ist eine Beziehung, die eigentlich nicht erlaubt, dass man sich privat viel trifft. Ich will nicht sagen, dass wir uns meiden, aber ich könnte nicht mit ihnen immer mal ein Bier trinken gehen oder so.

Mit wem gehst Du Bier trinken?
Ich gehe gerne in schräge Kneipen, Berliner Kneipen. Da ist diese verrückte Normalität. Die alten Männer, die alten fetten Frauen da. Ich finde die großartig. Ich bewundere die Kellnerin in meinem Lieblingslokal. Angie. Über sie würde ich gerne einen Film machen. Der wäre so wirklich.

Warum gibt es nicht mehr Filme über diese Leute?
Es gibt ja ein paar schöne Filme. Zum Beispiel Wäscherinnen von Jürgen Böttcher, 1972 bei der DEFA gedreht. Den Film habe ich damals in Leipzig gesehen.

Du hast auch bei der DEFA gedreht?
Eine Koproduktion, ein Film über Heinrich von Kleist. Ich war ungeheuer begeistert von dieser Zusammenarbeit. Ich hatte ein Sondervisum, womit ich 40 Tage überall hin konnte, und ich habe gewohnt bei den Leuten, weil ich ihr Leben mitleben wollte. Als die Mauer fiel, bin ich nach Potsdam, um die Leute wiederzutreffen. Ich habe mir gedacht, die Menschen werden so was von über den Tisch gezogen werden, weil sie dieses Wirtschaftssystem nicht kennen. Ich war sogar in der Treuhand, wollte die überzeugen, dass wir unbedingt die DEFA erhalten müssen. Ich habe künstlerisch argumentiert, aber vor allem wirtschaftlich, um dieses Potenzial zu retten. Und natürlich die Arbeitsplätze.

Die DEFA ist trotzdem Krachen gegangen.
Der politische Wille war nicht da.

Was für Bilder hast Du aus dieser Zeit?
In der Tragik des Unterganges passierte einer der ganz großen Momente meines Lebens. Von den gekündigten Leuten waren 1000 oder mehr in eine der großen Hallen gekommen, und ich sollte was sagen. Und ich habe gesagt, dass wir weiter kämpfen wollen, dass das Kino weiterlebt, und dass ich traurig und zornig bin über dieses Ende. Und dann haben diese Leute stehend applaudiert und geweint.

Was ist heute mit dem deutschen Film?
Also der deutsche Film hat ja jetzt wieder ein Blüte.

Woran erkennt man das?
An den Zahlen der verkauften Kinokarten. So heißt es.

Du wirst in einer Reihe genannt mit Fassbinder, Herzog und Wenders.
Das sind alles Leute, die mir sehr nahe sind. Aber dann muss man auch von Frank Beyer reden und unbedingt von Konrad Wolf und Kurt Maetzig. »Das Kaninchen bin ich« ist ein erstaunlich schöner deutscher Film, weil er so eine seltene Leichtigkeit hat. Eine große Verehrung habe ich Wolfgang Staudte entgegengebracht. Er war einer der Großen. Ein Wanderer zwischen Ost und West.

Eine große Tradition. Helma Sanders-Brahms gehört dazu.
Ich glaube ja. Ich möchte nur gerne, ehe ich sterbe, und das wird ja wahrscheinlich demnächst der Fall sein, mit dem, was ich im Leibe habe, noch einmal den Versuch machen, meine Filme auch in meinem Land ins Bewusstsein zu rücken und zu sagen: Guckt sie euch doch wenigstens mal an.

Sonntag, 21.11., Akademie der Künste ab 11 Uhr: Helma Sanders- Brahms-Filme, Lesung, Gespräch

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