Die grüne Schuld(en)bremse

Im »Freitag« regte Jürgen Trittin eine Debatte über eine »linke Alternative zu Schwarz-Gelb« an

  • Jürgen Reents
  • Lesedauer: 8 Min.
Jürgen Reents, Jahrgang 1949, war Gründungsmitglied der Grünen, Abgeordneter ihrer ersten Bundestagsfraktion und Mitglied ihres Bundesvorstands. Er trat 1991 aus der Partei aus. Seit 1999 ist er Chefredakteur des Neuen Deutschland.
Jürgen Reents, Jahrgang 1949, war Gründungsmitglied der Grünen, Abgeordneter ihrer ersten Bundestagsfraktion und Mitglied ihres Bundesvorstands. Er trat 1991 aus der Partei aus. Seit 1999 ist er Chefredakteur des Neuen Deutschland.

Der Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, Jürgen Trittin, hat in der Wochenzeitung »der Freitag« (11. November) ein Essay »Jenseits der Illusionen« geschrieben. Darin plädiert er für eine »handlungsfähige linke Alternative zu Schwarz-Gelb«. Diese müsse sich, um »auch in der Mitte der Gesellschaft überzeugen« zu können, auf eine »schmerzhafte Prioritätensetzung« einigen. Konkret geht es ihm dabei vor allem um eine Botschaft: Auch eine Regierung der linken Mitte müsse die Schuldenbremse einhalten.

Der Artikel von Trittin ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert. Zunächst die positive: Obwohl aktuelle Umfragewerte SPD und Grünen die Chance einer alleinigen Mehrheit einräumen, diskutiert Trittin nicht lediglich eine Rückkehr zu rot-grüner Regierungszeit, wie es sie von 1998 bis 2005 gab. Er spricht durchgängig von den »Parteien links der Mitte«, von »linker Alternative zu Schwarz-Gelb« oder »linker Regierungspolitik«. Offenkundig will er frühzeitig eine Tür auch zur Linkspartei öffnen, sollte das gegenwärtige grüne Hoch bis 2013 doch verflacht sein. Eine solche Debatte lässt sich am souveränsten anstoßen, wenn die eigene politische Formation im Aufwind ist.

Die Linkspartei hat diese Möglichkeit, sich als Stichwortgeber zu profilieren, in der unmittelbaren Zeit nach der letzten Bundestagswahl verpasst. Damals, im Herbst 2009, war das öffentliche Forum für die LINKE angesichts ihres Aufwuchses auf knapp 12 Prozent – vor den Grünen und bei Absturz der SPD – geradezu vorbereitet. Man fand es jedoch wohl zu früh, antwortete auf entsprechende Fragen mit dem stereotypen Hinweis, es gäbe »keine Koalition in der Opposition« und beschäftigte sich eifrig mit innerparteilichem Ärger. Nun scheinen die Gedanken bei der LINKEN zwar in Bewegung geraten zu sein, doch muss sie der Aufmerksamkeit, die derzeit den Grünen zuteil wird, inzwischen fast atemlos hinterher rennen.

Der zweite bemerkenswerte Aspekt an Trittins Aufsatz ist weniger erfreulich: Er befrachtet die Debatte einer linken Alternative zu Schwarz-Gelb von vornherein mit den inhaltlichen Begrenzungen, die seine Partei sich seit dem grünen Mitregieren im Bund auferlegt hat. Er stichelt nach links mit dem Hinweis, dass »fundamentale Bedingung linker Regierungspolitik« sei, »dass man regieren will«. Das sei »trivial«, aber »nicht in allen Parteien links der Mitte Konsens«. Was die Zurückhaltung in der LINKEN in dieser Frage ausmacht, ist ihm jedoch keine nachdenkliche Erörterung wert – sie müsste sich nämlich auch trostlosen Erfahrungen unter Rot-Grün zuwenden, die seine Partei lieber der Vergesslichkeit übergeben möchte.

Die Grünen nicht weniger als die SPD hätten von ihrer seinerzeitigen Regierungspolitik insbesondere zwei Dinge aufzuarbeiten: Dass sie den Begriff der Reform zu einem weithin negativ empfundenen verhunzt haben, einem solchen, der für große Massen immer nur Nachteil und selten Vorteil bewirkte. Und dass sie dieses Land in einen Zustand zurückgeführt haben, in dem Krieg als etwas Unausweichliches, gar als Zivilisationsauftrag angesehen werden darf.

Zweifellos, die Grünen haben seit ihrer Rückkehr in die Opposition hier und da etwas korrigiert, sind nun rundum in guter Stimmung. Claudia Roth etwa hat beim brutalen Polizeieinsatz vom 30. September in Stuttgart ihre Empörung wiedergefunden (»Ich hätte mir nie vorstellen können, dass so was in meiner Heimat passiert«), die ihr nicht kam, als die Grünen unter ihrem Vorsitz mörderische Bomben über Belgrad, Novi Sad und Varvarin abwerfen ließen. Die Grünen kritisieren eine zu geringe Erhöhung der Hartz-IV-Sätze durch Schwarz-Gelb um 5 auf 364 Euro, und wischen den Schwamm drüber, dass Rot-Grün sie sechs Jahre zuvor noch mit 20 Euro weniger einführte, den Betroffenen im Osten gar einen zusätzlichen Abschlag von 14 auf nur 331 Euro zumutete. Die Grünen plädieren dafür, den Spitzensteuersatz von derzeit 42 auf 45 Prozent anzuheben, wohin sie ihn einst gemeinsam mit der SPD herunterkurbelten, nachdem sie ihn von der Kohl-Regierung mit 53 Prozent in Empfang genommen hatten.

Die Korrekturen sind klein, das vorausgegangene Versagen war groß. Daran zu erinnern spricht den Grünen nicht das Recht auf bessere Einsichten ab, die Fähigkeit dazu aber wäre zu beweisen. Wenn von »fundamentalen Bedingungen« die Rede ist, dann sollte die selbstkritische Überprüfung der eigenen Position und die Ehrlichkeit im Umgang damit dazu gehören. »Glaubhafte Botschaften« dürfen nicht nur das verhandeln, was man einem dritten Partner auferlegen möchte. Grüne und SPD gingen nicht westenweiß in einen Neuanfang, wenn dieser denn wirklich eine »linke« Alternative zu Schwarz-Gelb sein soll. In ihren Klamotten haftet politische Schuld.

Womit wir bei Trittins zentraler Botschaft wären, der Anerkennung der Schuldenbremse. Diese meint, dass jede Bundesregierung die Neuverschuldung ab dem kommenden Jahr 2011 soweit zurückfahren muss, dass ab 2016 (in den Ländern ab 2020) ausgeglichene Haushalte vorliegen. Die vormalige Koalition von Union und SPD hat dies im Grundgesetz festgeschrieben. Künftig darf die strukturelle Nettokreditaufnahme dann nur noch 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts betragen. In konkreten Zahlen: In den kommenden sechs Jahren sind fortlaufend zwischen sechs und zehn Milliarden Euro weniger Kreditaufnahmen des Bundes erlaubt als im jeweiligen Vorjahr.

Kritiker, vor allem der LINKEN und aus den Gewerkschaften, haben diese Schuldenbremse als Wachstumsbremse bezeichnet und davor gewarnt, dass sie unweigerlich zu verminderten Investitionen bei der Daseinsvorsorge führen wird. Der Ökonom Rudolf Hickel nannte sie ein »Dikat«, mit dem »der Sozialstaat weiter demontiert wird« (ND 10.09.2010). Die Grünen, die seinerzeit im Bundestag ebenfalls gegen die Schuldenbremse votierten, haben sie inzwischen akzeptiert und erstellen Planspiele, mit denen sie diese im Falle eines Regierens »mit ökologischer und sozialer Verantwortung einhalten« wollen (Beschluss ihrer Fraktionsklausur im September). Derweil bezweifeln andere Fachleute, dass diese Regelung einem Praxistest überhaupt mehr standhalten wird, als die in der EU geltenden und mehrfach (auch durch die Bundesrepublik) gebrochenen Verschuldungsverbote.

Andererseits ist das Argument nicht von der Hand zu weisen, dass die Schuldenbremse nun mal dank der Zustimmung der SPD Verfassungsrang hat und nur mit Zweidrittelmehrheiten in Bundestag und Bundesrat wieder außer Kraft zu setzen wäre. Doch »diesen Gefallen« würden Union und FDP »der linken Mitte« nicht tun, schreibt Trittin. Sicher. Dennoch ist es nicht plausibel, die Anerkennung der Schuldenbremse als eine Art Lackmustest für die »Realisierungsmöglichkeiten« einer »linken Mehrheit in Deutschland« zu behandeln. Nicht nur, weil es – siehe oben – auch schwerwiegende Differenzen in anderen politischen Feldern zu klären gilt. Sondern aus einem der Sache selbst unmittelbaren und einem mit ihr verknüpften, weiterreichenden Grund.

Der unmittelbare Grund sind die bislang von den Grünen vorgelegten Rechnungen: Für eine Politik sozialer Gerechtigkeit sehen sie recht schmale Finanzierungsmöglichkeiten. Einsparungen und Zusatzeinnahmen hält Trittin nur in folgenden Bereichen für denkbar: Umgestaltung des Ehegattensplitting, Abbau ökologisch schädlicher Subventionen, höhere Brennelementesteuer, Abschmelzung des Dienstwagenprivilegs und Anhebung des Spitzensteuersatzes. Das summiert sich bei ihm auf rund 14 Milliarden Euro, denen er zwecks Rücknahme schwarz-gelber Sozialkürzungen rund 10 Milliarden Haushaltsbelastungen gegenüberstellt. Nicht nur die gerade vom Bundesrechnungshof vorgelegte Liste mit 25 Milliarden »unnötiger Ausgaben« des Bundes lässt höhere Potenziale erahnen. Es ist zudem auch Grünen erlaubt, sich z. B. bei der LINKEN (oder auch bei Gewerkschaften, attac u. a.) nach weitergehenden Vorschlägen umzusehen. Manch sozialer Ausgabenwunsch der Linkspartei mag dabei mit ihrer Einnahmekalkulation nicht an allen Stellen vor dem Komma übereinstimmen. Die Grünen haben jedoch eher das Problem, dass ihre steuerpolitische Phantasie sich nur schwer vom konservativ und sozialdemokratisch Gewohnten befreit. Deutlichere Umschichtungen zur Verringerung der sozialen Ungerechtigkeit sind ihnen zweitrangig; das mag am neuen Milieu liegen.

Der weiterreichende Grund, warum eine »linke« Anerkennung der Schuldenbremse nicht jene zentrale Bedeutung für das Zustandekommen eines neuen Mitte-Links-Projekts haben kann, die Trittin ihr beimisst, ist aber: Dies würde jede Mobilität politischen Handelns, jeden Austausch der Parteien-Formation mit den sie potenziell tragenden gesellschaftlichen Bewegungen von vornherein fesseln. Aus den Protesten um Stuttgart 21, der wieder erstarkten Anti-AKW-Bewegung, den gewerkschaftlichen Aktionen zur Rente, den neu sich mobilisierenden Initiativen im Bildungsbereich u. a. m. sollte die Lehre beherzigt werden, dass es grundsätzlich einer neuen Interaktion zwischen Regierenden und Regierten bedarf. Eine solche, bewusst angestrebte Interaktion erlaubte es der Alternative, die Begrenzungen der eigenen politischen Konzepte zu überschreiten und – sagen wir es so – die Verfassungswirklichkeit auszudehnen.

Es wäre einzugestehen, dass Unsinn auch gestoppt und wieder rückgängig gemacht werden kann. Und es wäre Deutungshoheit aus den politischen Formationen und Institutionen in die Gesellschaft zurückzuverlagern. Eine größere Selbstbindung an das, was gesellschaftlich gerecht artikuliert wird, ermöglichte einem linksalternativen Projekt überhaupt erst ein freieres Handeln gegenüber konservativen, auch rechtspopulistischen »Grenzen und Widerständen«, auf die Trittin aufmerksam macht. Wenn seine These richtig ist (und ich teile sie), dass Union und FDP 2009 nur »durch Demobilisierung ihres politischen Gegners gewonnen« haben, dann müsste das nächste Mal entschiedene Mobilisierung auf der Agenda stehen.

Es ginge also darum, über ein gesellschaftliches Projekt und nicht bloß über eine andere Farbmischung der Regierung zu debattieren. Das mag weniger »trivial« sein als das, woran Trittin vorrangig die Linkspartei ermahnen will – doch könnte es gerade deswegen mehr Perspektive und Haltbarkeit in sich tragen als die bloße Addition eines neu aufgelegten SPD-Grünen-Bündnisses um den Faktor Linkspartei. Kurz: Es käme darauf an, doch ein wenig mehr zu wagen. Ist das zu viel verlangt für die heutigen Grünen?

PS: Auf jeden Fall lohnt es sich, den Artikel von Trittin für eine solide Auseinandersetzung im Detail nachzulesen: www.Freitag.de/positionen/1045-jenseits-der-illusionen.

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