In der Heiligen Nacht können sogar die Tiere sprechen

Im Spreewald werden alte Weihnachtstraditionen als lebendiges Brauchtum gepflegt

  • Heidi Diehl
  • Lesedauer: 7 Min.
Magda Morgenstern in der Straupitzer Tracht
Magda Morgenstern in der Straupitzer Tracht

Hier am tief verschneiten Ortsrand von Burg im Spreewald scheint es, als sei die Zeit stehengeblieben. Die holzbeheizte Kochmaschine in der Küche des winzigen reetgedeckten Lehmhauses strahlt wohlige Wärme aus. Auf dem Herd köchelt Grünkohl im Topf vor sich hin, in der Röhre brutzelt eine Gans, derweil die ganze Familie um den Tisch sitzt, sich Geschichten erzählt, Pfefferkuchen aussticht und dabei Glühwein oder Tee trinkt. In der Luft hängt ein verführerischer Duft von Äpfeln, Gewürzen und allerlei Kräutern.

So etwa muss es hier auch im 17. Jahrhundert zu Weihnachten ausgesehen haben. Heute ist Peter Franke hier der Hausherr und lädt nicht nur in der Weihnachtszeit Gäste in seine »Kräutermanufaktur« zur kulinarischen Spreewälder Traditionspflege ein. »Jede Jahreszeit hat ihre ganz eigenen Gerichte und Gerüche, doch jetzt in der Weihnachtszeit vermischt sich das noch mit Heimlichkeiten und Kindheitserinnerungen. Vielleicht sind auch deshalb die Veranstaltungen in dieser Zeit in der alten Lehmhausküche so beliebt«, mutmaßt der Spreewaldkoch.

Die Freundestruppe aus Luckau, die sich eine Woche vor dem Heiligen Abend hier zusammengefunden hat, ist mit Eifer dabei, ein festliches Essen zuzubereiten. Grünkohl und Rotkohl gab's bei ihnen bislang nur aus dem Glas und Kloßteig fertig aus dem Supermarkt. Heute aber wird alles handgemacht. Wenn beim Meerrettichreiben auch Tränen fließen und beim Kaffeemahlen das Handgelenk schmerzt – am Ende des Tages sitzen alle glücklich um den großen Tisch. Sie essen, erzählen sich Geschichten und staunen den Drehboom an, so wie die Kinder in diesem Haus vor 300 Jahren.

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Nirgendwo anders als im Spreewald kennt man ihn, und fast wäre der Drehboom auch hier in Vergessenheit geraten. Doch glücklicherweise gibt es nicht nur beim kulinarischen Traditionshüter. Dieter Dziumbla aus Burg ist so einer. Er und seine Frau Christa stellen seit Jahrzehnten Spreewaldtrachten her und sind immer auf der Suche nach altem Bewahrenswerten. Als sie vor etwa fünf Jahren den Spreewaldforscher und Trachtensammler Dr. Lothar Balke aus Drebkau besuchten, erzählte der vom Drehboom, dem »wendischen Weihnachtsbaum«. Dieter Dziumblas Neugier war geweckt, und er wühlte solange in alten Büchern, bis er ein Foto fand. Nach diesem baute er den Drehboom nach. Einige sind inzwischen entstanden, der größte misst 2,70 Meter und schmückt Weihnachten Dziumblas Wohnzimmer, der kleinste ist nur 40 Zentimeter hoch und steht im Amt Burg.

»Kommen Sie, ich zeige Ihnen einen«, lädt Dieter Dziumbla mich in seine Trachtenstube ein. Auf den ersten Blick steht da eine große mehrstöckige Pyramide. Doch wenn die Kerzen brennen, erkennt man schnell den Unterschied. Denn: Während bei der Pyramide die Kerzen fest stehen, drehen sie sich beim Drehboom mit. Dieser sei gewissermaßen eine Erfindung aus dem Mangel heraus, erzählt Dziumbla. Denn im Spreewald gab es bis vor rund 100 Jahren so gut wie keine Kiefern oder Tannen noch andere Arten von Nadelbäumen. Dafür aber jede Menge Weiden, deren Zweige man zum Flechten von Körben brauchte. So machten die Spreewälder aus der Not eine Tugend und nutzten die Zweige auch, um Weihnachten kunstvolle mehretagige »Bäume« zu bauen. An der Spitze brachten sie aus dünnem Holz oder zerschnittenem Weißblech Flügel an, verzierten die Weidenkonstruktion mit bunten Bändern und Papiergirlanden, steckten ein paar Kerzen drauf und lagerten sie drehbar auf einem spitzen Stab – fertig war der Drehboom. Die Etagen wurden mit kleinen Figuren, Obst und Nüssen geschmückt, und ganz unten legte das Christkind am Heiligen Abend die Geschenke für die Kinder ab.

Lange hielten die Wenden an dieser schönen Tradition fest, selbst als rechts und links der Spreewaldfließe längst Nadelbäume wuchsen, kamen die ihnen nicht ins Haus. Die setzten sich erst ab 1910 durch, als den Wenden der christliche Weihnachtsbaum durch ein Preußisches Dekret regelrecht verordnet wurde. Nach und nach geriet der Drehboom in Vergessenheit. »Selbst meine Eltern kannten ihn nicht mehr«, erzählt Dieter Dziumbla, und freut sich, dass inzwischen wieder einige Spreewälder Weihnachten unterm Drehboom feiern.

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Auch Marga Morgenstern aus Lübben ist eine Hüterin der wendischen Traditionen. Geboren in Straupitz als Tochter einer deutschen Mutter mit hugenottischen Wurzeln und eines wendischen Vaters, wuchs sie mit den Sitten und Bräuchen ihrer Vorfahren auf. Insbesondere ihre wendische Großmutter prägte das Mädchen. Als die heute 75-Jährige selbst Enkelkinder hatte, begann sie die Erinnerungen ihres Lebens und des Lebens anderer und somit die Geschichte der Wenden im Spreewald aufzuschreiben. Fünf Bücher sind es inzwischen geworden, wer in ihnen liest, dem öffnet sich eine Spreewälder Schatztruhe.

Brauchtumspflege sei ihr ein wichtiges Anliegen, erzählt die überzeugte Trachtenträgerin. »Doch nur, was das Herz erreicht hat, setzt sich fest«, sagt sie, und will damit sagen, dass sie entschieden dagegen angeht, die Traditionen zur billigen Folklore verkommen zu lassen. »Ich trage meine Tracht nicht, um vor Fotoapparaten der Touristen zu posieren, sondern als Festkleid zu familiären wie kirchlichen Festen, und wenn ich liebe Gäste empfange.«

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Weihnachten ist natürlich so ein guter Grund für die Festtagstracht. Und auch all die anderen wendischen Weihnachtstraditionen werden im Hause Morgenstern gepflegt. Das beginnt lange vor dem Fest, erzählt die agile Frau. Der Advent ist die Zeit der Stille, der Rückbesinnung, des Eintauchens in uns selbst, sagt sie und, als ob es in unserer hektischen Zeit noch eines Beweises bedürfe, zitiert sie einen ihrer Lieblingsdichter, Theodor Fontane: »Es ist so still, das ich sie höre, die Stille der Natur.«

Am 4. Dezember, dem Tag der Heiligen Barbara, schneidet Marga Morgenstern Obst- oder Forsythienzweige und stellt sie in eine Vase. Blühen sie am Heiligen Abend, bringt das Glück im kommenden Jahr, hat sie von ihrer Großmutter gelernt. Wer kann das nicht gebrauchen? Als Glücksbringer gilt auch der Mistelzweig über der Tür, unter dem man seine Liebsten küsst.

Der Adventskranz, den die meisten von uns nur als Symbol der Vorfreude auf das Weihnachtsfest kennen, hat bei der Wendin eine tiefere Bedeutung: »Der Kranz ist ein Zeichen für die Unendlichkeit des Lebens, das wir zu beschützen haben. Mit jeder Kerzen, die wir an den Adventssonntagen anzünden, wird das Licht auch in uns selbst heller und weckt neue Hoffnungen«.

An Heiligabend muss natürlich der Baum geschmückt werden – bei ihr mit Kerzen, Lametta und Kugeln. Das ist Aufgabe des Mannes, die Hausfrau ist derweil für die Vorbereitung von »Siebenerlei Essen« zuständig. Das hört sich gewaltig an, erzählt sie, ist aber in Wirklichkeit nichts anderes als ein Kartoffelsalat, in den sieben Zutaten gehören: Kartoffeln, Gurken, Leinöl, Zwiebeln, Pfeffer, Salz und unbedingt Hering, denn er verheißt Glück. Abends nach dem Kirchgang wird er mit Würstchen serviert.

Bevor die ganze Familie zum Gottesdienst geht, werden die Tiere beschenkt. »Großmutter brachte ihnen immer ganz besondere Leckerbissen und erzählte uns Kindern, dass die Tiere in der Heiligen Nacht sprechen können. Doch wer ihnen dabei zuhört, dem wird großes Unglück widerfahren, warnte sie uns«, erinnert sich die 75-Jährige. »So gern wir gewusst hätten, worüber sich die Tiere unterhalten, die von Großmutter schrecklich ausgemalten Schicksale von Leuten, die ihre Neugier nicht zügeln konnten, hielten uns letztlich davon ab.«

Und noch eine Tradition hütet und pflegt Magda Morgenstern: Zwischen dem 24. Dezember und dem 6. Januar (Heilige Drei Könige) darf man weder das Haus putzen, noch Wäsche waschen oder aufhängen. Das bringt Unglück. Sie sei zwar nicht abergläubisch, aber den Brauch einzuhalten, mehre einen ganz besonderen Reichtum – die heilsame Stille, Zeit für sich selbst und die, die man liebt. Reichtum, der nicht käuflich ist.

Zeitdokumente vom Drehboom

Viele Jahrzehnte war der Drehboom in Vergessenheit geraten. Vielleicht gibt es aber doch noch in alten Spreewälder Fotoalben historische Bilder, vielleicht erinnern sich alte Spreewälder noch an Erzälungen ihrer Großeltern. Möglicherweise schlummert so ein Ururaltdrehboom sogar noch auf irgendeinem Speicher. Gesucht werden alle Zeitdokumente. Unter allen Einsendern

lost das Hotel zum Stern in Werben einen Reisepreis aus.

Infos bitte an Hotel »Zum Stern«, Burger Str. 1, 03096 Werben, Tel.: (035603) 66-0, E-Mail: hotel-stern-werben@spreewald.de, www.hotel-stern-werben.de

Rund einen Meter misst dieser Drehboom. ND-Fotos: Heidi Diehl
Rund einen Meter misst dieser Drehboom. ND-Fotos: Heidi Diehl
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