Schon im Keim erstickt

Siegfried Prokop über Intellektuelle in der DDR – Auf der Suche nach Alternativen

  • Marga Voigt
  • Lesedauer: 5 Min.
Der junge Wolfgang Harich in seinem Arbeitszimmer, 1956 Foto aus: Prokop, »Ich bin zu früh geboren ...«
Der junge Wolfgang Harich in seinem Arbeitszimmer, 1956 Foto aus: Prokop, »Ich bin zu früh geboren ...«

Kontrovers verlief die Diskussion im Präsidialausschuss des Kulturbundes über die Regierungserklärung von Ministerpräsident Otto Grotewohl am 3. November 1956. Mit der Einbeziehung der Bundesrepublik in die NATO hat Adenauer die Rechte über Verhandlungen zur Wiedervereinigung Deutschlands an Washington, London und Paris abgetreten. Diese Zäsur in der deutschen Frage hatte auch Konsequenzen für die Kultur- und Wissenschaftspolitik beider deutscher Staaten, deren bedeutendste wohl die Bildung des Forschungsrates 1957 in der DDR und des Wissenschaftsrates 1958 in der Bundesrepublik waren.

Mit diesen Gedanken führt Siegfried Prokop den 2. Teil seiner jetzt vorliegenden Sozialgeschichte der DDR-Intelligenz ein und erzählt die Geschichte des erneuten Aufschwungs oppositionellen Denkens und eines besonderen deutschen Weges zum Sozialismus, anknüpfend an das Konzept von Anton Ackermann. Wolfgang Harich sprach im Kulturbund die prinzipielle Frage an, mit welcher Einstellung die Regierung der DDR an die Lösung der Probleme nach dem XX. Parteitag der KPdSU herangehen wolle. Stelle sie sich mit einem offensiven Programm an die Spitze, könne sie das Vertrauen der Bürger stärken. Noch im selben Monat setzte sich im Präsidialrat des Kulturbundes die Kommission für gesamtdeutsche Arbeit zusammen. Sie wollte den »Deutschen Rat zur Vorbereitung der Wiedervereinigung« unterstützen, der die schrittweise Überwindung der Spaltung Deutschlands zum Ziel hatte. Doch die gesamtdeutsche Aktivität des Kulturbundes fand mit der Verhaftung von Wolfgang Harich am 29. November 1956 ein jähes Ende.

Dank Prokops Recherchen erfährt der Leser, dass Harich die radikalsten Reformvorstellungen entwickelte und seine »Plattform« als ein ausbaufähiges Konzept zum autoritären Sozialismus Ulbrichtscher Prägung schon im Keim erstickt wurde. Auf der Höhe der Zeit stand freilich Harichs »Kleines Vademecum«. Mit ihm schließt er trefflich an das Denken von Bloch, Havemann, Jacoby, Lukács und andere an; leidenschaftlich forderte er die Weiterentwicklung der marxistischen Philosophie zur lebendigen Wissenschaft. Sie müsse sich am Fortschritt der Wissenschaften orientieren und sich stets den Veränderungen des modernen wissenschaftlichen Weltbildes anpassen. Der Hauptfehler des Stalinismus sei es gewesen, den Grenzen des Marxismus mit der Eroberung und dem Ausbau der Macht und administrativem und psychologischem Druck auf die Intellektuellen begegnen zu wollen. Ulbricht selbst hatte die Abkehr vom Stalinismus erwogen und unter dem Druck von Karl Schirdewan Reformideen vorgetragen. An die Bereitschaft Ulbrichts, sich an die Spitze der Reformkräfte zu stellen, hätten Harich, Janka und Just anknüpfen sollen, meint Prokop. Nach den Ereignissen in Ungarn sah Ulbricht allerdings die Machtsicherung als oberstes Gebot an; politische Gegner schaltete er nunmehr gnadenlos aus, demokratischer Sozialismus wurde rigoros unterdrückt.

Nicht die gesamte Intelligenz wurde Repressalien unterworfen; Wissenschaftler und Techniker erfuhren mit der Gründung des Forschungsrates der DDR eine vorrangige Förderung und Unterstützung. Die von Prokop herangezogenen Dokumente belegen, wie sensibel die Vertreter der Intelligenz auf die Zustände im Lande reagierten und welchen Reformbedarf sie anmerkten. Sie hatten eigene Vorstellungen vom Sozialismus. Die umfangreichen Zitate aus protokollierten Intelligenzaussprachen mit Walter Ulbricht und Otto Grotewohl aus den Jahren 1957 bis 1959 belegen das ausdrücklich. Zur Sprache kamen Fragen der sozialistischen Moral und Ethik und die Verantwortung der Wissenschaftler in beiden deutschen Staaten und in der Welt. Der Physiker Peter Adolf Thiessen erklärte, was er unter der »wissenschaftlichen Erbsünde« verstehe. Die Künstlerin Greta Kuckhoff warf die Frage auf, ob das neue Leben eng und langweilig sei; die DDR biete jungen Leuten nicht genügend Möglichkeiten, ins Ausland zu reisen. Nicht ausgespart hat Prokop die Polemik zum »Spirituskreis« an der Martin Luther Universität Halle, dem Ulbricht in der Aussprache einen kräftigen Hieb versetzte, weil er in ihm einen Anschlag auf die Führungsrolle der SED an der Universitätsleitung sah. Der Kreis wurde am nachfolgenden Tag vom Akademischen Senat aufgelöst. Und im eingangs zitierten Gespräch der Künstler mit Grotewohl im Berliner Klub der Kulturschaffenden hatte Max Burghardt erklärt, die Staatsmacht müsse des Künstlers innere Widersprüchlichkeit bedenken, die ihm erst ermögliche, große Werke zu schaffen. Am Schluss der Debatte beklagte Grotewohl dennoch den fehlenden Trompetenschall, der in das Neue hineingereicht hätte.

Der exzellente Zeithistoriker bietet dem Leser gleichsam als historischen Hintergrund eine umfangreiche Zeittafel. Hier erfährt man viel über die Zusammenhänge und Zwänge im Kalten Krieg. Der Vorrat an Dokumenten ist schier unerschöpflich, und die Qual der Auswahl reduziert die Ausgewogenheit in der Darstellung. Nicht sehr ausführlich geraten die Auswirkungen des sowjetischen Schlingerkurses in der deutschen Frage auf das Verhalten der Partei- und Staatsführung im Verhältnis zu den Intellektuellen. Gerade was man an den Intellektuellen schätzte, motivierte auch besonderes Misstrauen. Hegt der Intellektuelle nicht immer einen Führungsanspruch?

Prokop befasst sich eingehend mit der sozialen Struktur und dem sozialen Wandel in der Intelligenz. Die Abwanderung aus der DDR erreichte in der zweiten Hälfte der 50er Jahre neue qualitative Ausmaße. Besonders dramatisch war es trotz Erhöhung der Zahl der Medizinstudenten um die ärztliche Versorgung der Bevölkerung bestellt. Nur durch die Beschäftigung von Ärzten aus Bulgarien und den Nachbarländern Polen und Tschechien konnte Schlimmeres verhindert werden. In den Schwerpunktbetrieben der Industrie fehlte wissenschaftlich-technisches Personal. Prokop widmet sich den Problemen der Absolventenvermittlung und geht auf starke Differenzen zwischen der »jungen« und der »alten« Intelligenz ein. Auf dem Feld der Eliten ist eine ernsthafte Krise sichtbar. Vom Idealziel einer »intelligenzintensiven Produktion« war die DDR zu Beginn der sechziger Jahre weit entfernt.

Die wichtigste und größte Gruppe der Intelligenz blieben die Lehrer und Erzieher, doch auch die wanderten mit der überstürzten Einführung der polytechnischen Oberschulbildung verstärkt ab. Künstler und Schriftsteller vergrößerten ihren Anteil, blieben aber insgesamt die kleinste Gruppe. Tabellen belegen den Umfang des intellektuellen Ausblutens der DDR durch die zunehmende Republikflucht. Für die gebliebenen Künstler und Intellektuellen war die Grenzschließung am 13. August 1961 zunächst keineswegs eine Katastrophe; sie setzten den Aufbau des Sozialismus in der DDR ins Werk.

Nach dem Mauerbau wurde die soziale Frage der Jugend stärker beachtet. Anspruchsvoll formulierte jene 1963 ihre Vorstellungen in einem Jugendkommuniqué. Doch das wäre schon der Stoff für einen anderen Band. Prokop schließt hiermit sein faktengestütztes und lesenswertes Buch über die Intellektuellen in den Wirren der Nachkriegszeit ab.

Siegfried Prokop: Intellektuelle in den Wirren der Nachkriegszeit. Die soziale Schicht der Intelligenz der SBZ/DDR von 1955-1961. Band III, Teil 2. Kai Homilius Verlag, Berlin 2010. 526 S., geb., 19,90 €.

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