Parteisymbole landeten im Straßenstaub

Politische Gefangene freigelassen, doch weiter Misstrauen gegenüber Tunesiens neuer Regierung

  • Claudia Altmann, Tunis
  • Lesedauer: 3 Min.
In Tunesiens neuer Übergangsregierung ist zwei Tage nach der Vereidigung schon wieder ein Minister zurückgetreten. Nach Angaben des Fernsehens legte am Donnerstag der Staatsminister für lokale Verwaltung, Zouheir M'Dhaffer, ohne Angaben von Gründen sein Amt nieder. Er hatte sich zuvor als Propagandist der alten Regierung von Ex-Präsident Zine el-Abidine Ben Ali hervorgetan und galt als kompromittiert.

Unter dem Jubel tausender Demonstranten stürzten gestern die riesigen Lettern der einstigen Regierungspartei Konstitutionelle Demokratische Sammlung (RCD) vom Gebäude der Tuniser Parteizentrale in die Tiefe. Wie bereits in den Tagen zuvor forderten die Demonstranten die Auflösung der politischen Organisation des gestürzten Präsidenten Zine el-Abidine Ben Ali. Die Proteste entzünden sich vor allem an der Beteiligung von RCD-Kadern in der Übergangsregierung von Premierminister Mohamed Ghannouchi. Dieser war am Dienstag zwar aus der Partei ausgetreten, hatte damit jedoch nicht das Vertrauen der aufgebrachten Bevölkerung zurückgewinnen können.

Am selben Tag legte einer der sechs von ihm ernannten RCD-Minister ebenfalls seine Mitgliedschaft in der Partei nieder. Vor allem das Verbleiben des noch von Ben Ali kurz vor dessen Flucht nach Saudi-Arabien ins Amt gehobenen Innenministers schürt bei den Menschen großes Misstrauen und mindert weiter die Glaubwürdigkeit des Kabinetts. Auch die Zusicherung von Interimspräsident Fouad Mebazaa, die neue Führung stünde für »einen radikalen Bruch mit der Vergangenheit«, beruhigte die Gemüter nicht.

In Tunis und anderen Städten des Landes kam es erneut zu Protestmärschen. Im Fernsehen hatte Mebazaa versprochen, es gebe »kein Zurück«. Die Regierung werde den Willen des Volkes respektieren. Das Fernsehen präsentierte zudem beschlagnahmte Luxusgüter Ben Alis und seiner Frau Leila Trabelsi, darunter Schmuck, Uhren und Kreditkarten. Eine Untersuchung über den von beiden Familien in Tunesien und im Ausland »erworbenen« Besitz sei in Vorbereitung, verlas der TV-Sprecher. Landesweit sollen 33 Mitglieder der Familie verhaftet worden sein. Sie sollen wegen »Verbrechen gegen Tunesien« vor ein Gericht gestellt werden.

Wie von Mebazaa ebenfalls angekündigt, wurden gestern die ersten politischen Gefangenen auf freien Fuß gesetzt. Vor dem Gefängnis im Tuniser Vorort El Moghnagia warteten zahlreiche Familienangehörige auf die Freigelassenen. Unter dem Regime Ben Alis waren zahlreiche Oppositionelle aller Couleur hinter Gitter gebracht worden. Bei vielen hatte bereits der geringste Verdacht für eine Verurteilung genügt. So auch im Fall des 20 Jahre alten Larbi Khemira aus dem 550 Kilometer südlich von Tunis gelegenen Tataouine. Dem Studenten der Islamwissenschaften an der Kairoer Al-Azhar-Universität waren »terroristische Aktivitäten« zur Last gelegt worden. Er war in Ägypten verhaftet und ausgewiesen und anschließend von einem tunesischen Gericht verurteilt worden. »Ich habe mich nie politisch engagiert und werde das auch künftig nicht tun«, erklärte er gegenüber ND. »Mich hat nur mein Religionsstudium interessiert, das ich jetzt hoffentlich zu Ende bringen kann.«

Unterdessen kehrt für die Menschen allmählich wieder Normalität im Alltag ein. Allerdings sind Schulen und Universitäten nach wie vor geschlossen. In den meisten Vierteln von Tunis und Umgebung waren gestern die Geschäfte geöffnet. Engpässe gibt es aber vor allem in der Lebensmittelversorgung. Bäcker und Gemüsehändler haben ihre Preise teilweise vervierfacht. Viel mehr beunruhigt die Bevölkerung jedoch die instabile Sicherheitslage. Vor allem in den armen Vierteln der Hauptstadt sind die Menschen mit wachsender Kriminalität konfrontiert.

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