Aufbruch in ein wilderes Deutschland

Tagung in Freiburg suchte nach Wegen zu mehr biologischer Vielfalt

  • Michael Scheuermann, Freiburg
  • Lesedauer: 3 Min.
Ob völlig sich selbst überlassene Wildnisräume die schwindende Artenvielfalt hierzulande aufhalten können oder eher eine gelenkte Naturentwicklung, ist umstritten. Vergangene Woche diskutierten darüber Forst- und Umweltexperten, Politiker und Industrievertreter auf dem »31. Freiburger Winterkolloquium Forst und Holz« der Universität Freiburg, passend zum Auftakt des von der UNO ausgerufenen »Internationalen Jahres des Waldes«.
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Nach dem Willen der Bundesregierung soll bis 2020 die nationale »Waldfläche mit natürlicher Waldentwicklung auf fünf Prozent anwachsen«. Das entspricht zwei Prozent der Gesamtfläche Deutschlands. Öffentliche wie private Waldbesitzer sind bereits seit den 1980er Jahren der Umsetzung von Arten- und Biotopschutzprogrammen verpflichtet. Längst weichen aufgeräumte Wälder mit nur einer Baumsorte und eines Jahrgangs alters- und artengemischten Beständen. Flächen werden nicht mehr radikal gerodet, Totholz nicht sofort ausgeräumt. Die gezielte Entnahme einzelner Bäume schafft Platz und Licht für Verjüngung und Neuansiedlungen, die wiederum verdrängten Tierpopulationen zugute kommt. Um die Uralt- und Totholzphase in seinen Laubwäldern zu fördern, will beispielsweise Nordrhein-Westfalen sein bestehendes Netz kleiner Wildwaldgebiete von je 5 bis auf über 100 Hektar Größe ausweiten.

Harald Textor von der Forstdirektion des Wittelsbacher Ausgleichsfonds, Ingolstadt, macht sich für die Renaturierung von Flussauen stark. Sie seien komplexe Nutzökosysteme, die zwei Drittel aller heimischen Pflanzen, mehr als die Hälfte aller Käfer-, Vogel- und Libellen-, sowie 80 Prozent aller Fischarten beherbergen.

Als Verfechter der Wildniserweiterung fragt sich Marco Heurich vom Nationalpark Bayerischer Wald, ob man Wildtiere überhaupt noch »managen« muss? Beim Schutz großer Säugetiere gehe es »nicht nur um den Erhalt der natürlichen Artenausstattung«, betont er. Eine natürliche, ungestörte Räuber-Beute-Beziehung von Waldäsern bis hin zu Luchsen und Wölfen habe auch »bedeutenden Einfluss« auf die Waldökonomie und Biodiversität. So nehme der Waldverbiss durch Hirsche ab, wenn sie sich zum Schutz vor den Raubtieren auf offenere Flächen zurückziehen.

Wildniskonzepte wie dieses sind in dem streng geschützten bayerisch-böhmischen Waldgebiet leichter durchzusetzen als auf den sonst vorherrschenden kleinteiligen Waldinseln mit angrenzendem Kulturland. So lässt die Deutsche Bundesstiftung Umwelt (DBU) auf den ihr vom Bund anvertrauten 33 ehemaligen Truppenübungsplätzen eine menschliche Einflussnahme ausdrücklich zu. Wälder werden durch Auslichtung renaturiert, Offenflächenbiotope durch Beweidung, Mahd und Abbrennen vor Verbuschung bewahrt. Biodiversität lasse sich dabei auch durch nachhaltige Nutzung des »unverzichtbaren nachwachsenden Rohstoffs Holz« erreichen.

Das wäre ganz im Sinne des Bundesverbandes Säge- und Holzindustrie Deutschland (BSHD), der sich gegen weitere Flächenstilllegungen wehrt. BSHD-Präsident Klaus Böltz plädiert einerseits für einen integrativen Naturschutz »im Rahmen multifunktionaler Waldwirtschaft«, will aber den Holzeinschlag durch Aufforstung von Brachflächen und intensivere Waldnutzung verstärken, sonst würde die Bau- und Möbelindustrie auf Importholz umsteigen.

Das Bundesumweltministerium stützt sich zum Erreichen des Biodiversitätsziels zwar auf schon vorhandene Schutzgebiete und Nationalparks, räumt aber ein, dass eine »verlässliche Datengrundlage« für eine »belastbare Eröffnungsbilanz« fehle.

Für Werner Kloos vom Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz wird das Spannungsfeld zwischen steigendem Holzbedarf und dem Erhalt biologischer Vielfalt dadurch »entschärft und aufgelöst«, dass der Wildnisforderung eine gesteigerte Produktivität heimischer Wälder entgegengesetzt wird. Vorschläge für die Umsetzung des Biodiversitätsziels seien gesammelt und würden jetzt ausgewertet, erklärt Kloos. Die Ergebnisse sollen im Laufe des Jahres diskutiert werden.

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