Ort der Sehnsucht

Kelemens »Frost«

  • Astrid Schwabe
  • Lesedauer: 2 Min.

Am kommenden Sonnabend gibt es im Berliner Kino Krokodil um 20 Uhr die seltene Gelegenheit, eine Aufführung des Filmes »Frost« von Fred Kelemen zu sehen. »Frost« erzählt von dem siebenjährigen Micha, der am Weihnachtsabend mit seiner Mutter Marianne vor dem betrunkenen, gewalttätigen Vater aus der Berliner Mietwohnung fliehen muss. Marianne hofft, am Ort ihrer Kindheit in der ehemaligen DDR Ruhe und Schutz zu finden. Ihre Flucht führt die beiden durch die einsamen Landschaften Brandenburgs. Als sie an den ersehnten Ort gelangen, ist dort aber nichts als eine Öde aus Eis, aus der am Horizont die Spitze eines in der Überflutung versunkenen Kirchturms sticht. Hat es den Ort aus Mariannes Kindheit hier wirklich gegeben? Täuscht sie die Erinnerung? Mutter und Sohn müssen ihre nun ziellose Odyssee fortsetzen; einen Ort der Rückkehr gibt es nicht.

Die langen Einstellungen, die unverbrauchte Schönheit der Bilder lassen die Verlorenheit und Verlassenheit der beiden in dieser Landschaft mit schmerzlicher Wucht und tiefgreifender Anteilnahme empfinden. Die Menschen, denen Micha und Marianne begegnen, versuchen aus deren Not ihre Vorteile zu ziehen, um ihrer eigenen Einsamkeit und Verlorenheit wenigstens für Momente zu entfliehen und sich die Illusion menschlicher Wärme und Nähe zu verschaffen. Dabei gibt es kein Erbarmen.

Es ist schließlich Micha, das Kind, das dem zerstörerischen Bann des sich unablässig wiederholenden Mechanismus der Angst, Egozentrik und Gewalt und dem Mangel an Vision für ein besseres Leben seitens der Erwachsenen mit einem befreienden Fanal ein Ende setzt. Frei und alleine hat Micha die Entscheidung, in welche Richtung er weitergehen wird. Mit diesem letzten Moment des nah im Bild stehenden Jungen, hinter dem sich ein Weg zum Horizont erstreckt, und dessen Blick sich suchend von uns ab- und zu uns hinwendet, entlässt uns der Film in unser je eigenes Leben, das uns auffordert, Entscheidungen zu treffen. F. Kelemens zentrale Themen – menschliche Grausamkeit, Einsamkeit, Sehnsucht und Zerbrechlichkeit – erfahren in diesem Film eine epische Ausbreitung.

Vor 13 Jahren entstanden und mit Preisen ausgezeichnet, kam »Frost« aufgrund des destruktiven Agierens seines Produzenten nie regulär ins Kino. Bis heute existiert nur eine einzige Filmkopie, die durch viele Aufführungen seither stark abgenutzt und in ihrem Bestand akut gefährdet ist. Jede Vorführung könnte die letzte sein.

Es wäre für die Filmkunst ein enormer kultureller Verlust, würde dieser bedeutende Film, der auch ein Dokument der »Nachwendezeit« ist, eines Tages zu den verloren Kunstwerken gerechnet werden müssen.

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