Heimweh nach Böhmen
Was an Berlin nervt
Bei jeder Berlinale erfasst mich nach kurzer Zeit etwas wie Heimweh nach Karlovy Vary und Locarno. Nicht wegen der angenehmeren Temperaturen, mit denen beide A-Festival-Konkurrenten punkten können. Für das Wetter ist die Berlinale schließlich nicht verantwortlich, und in diesem Jahr muss man wenigstens nicht über vereiste Wege schlittern.
Nein, worin sich das tschechische und Schweizer Kinoereignis so angenehm von unserem heimischen Event unterscheiden, ist die lockere und unangestrengte Atmosphäre, die Flexibilität, die dort gerade auch die Arbeit des Filmkritikers erleichtert. Keine unfreundlichen Zerberusse, die dem gestressten Festivalchronisten, wenn er sich bei engem Terminplan aus gutem Grunde einmal um fünf Minuten verspätet, mit preußischer Sturheit den Zutritt in Vorführsäle verwehren. »Das ist uns verboten«, wird einem in Berlin mit obrigkeitshöriger Strenge beschieden.
Dass es auch anders geht, ist im großen Kinosaal des böhmischen Festivalzentrums, des Thermal-Hotels, zu erleben. Dort sammeln sich vor Beginn der Vorführungen junge Leute an den Eingängen, die keine Karten mehr erhalten haben, und werden nach dem Einlass der Karteninhaber noch hereingelassen und dürfen auch auf den Stufen des Saales lagern. Geschadet hat das noch keinem.
In Berlin ist immer wieder die Geduld der für 60 Euro Akkreditierten zu bewundern. Ein Beispiel: Um 15.30 Uhr ist eine Pressevorführung angesetzt, auf deren Einlass bereits eine halbe Stunde zuvor ein Pulk von Journalisten vor dem Kinoeingang wartet und sich die Beine in den Bauch steht, manchmal auch quasi in den des von der Menge bedrängten Nachbarn. 15.45 Uhr ist es endlich soweit. Hat man Glück, entschuldigt sich sogar jemand vom Personal und verweist auf eine zusätzliche Vorführung in einem anderen Kino. Unvermeidliche Organisationsmängel im 61.(!) Jahr der Berlinale?
Zaghafte Proteste lassen manchmal den Wunsch nach mehr Heftigkeit aufkeinem, Vorbild: der Kairoer Tahrir-Platz. Freilich: ohne Rufe wie »Kosslick muss weg!«.
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