Absturz mit Ansage

Rügens Steilküsten bröckeln wie lange nicht, in Sassnitz sind gar Häuser bedroht. Über die Gründe wird hart gestritten

  • Roland Heine
  • Lesedauer: 7 Min.
Naturphänomen oder Menschenwerk? Oder beides? Seit Jahresbeginn sind an Rügens Küsten tausende Kubikmeter Sand und Gestein ins Meer gestürzt, auch Wohngebiete sind betroffen. Glücklicherweise kamen bislang Menschen nicht zu Schaden, doch die Küstenabbrüche werden weitergehen, sagen die Experten.

Noch zweieinhalb Meter, dann ist das Grundstück der Mühles dran. Die hellgraue Sitzbank gleich vor der kleinen Begrenzungshecke balanciert bereits auf einem Uferüberhang – fünfzehn Meter Absturz sind es bis unten zum steinigen Ostseestrand. Nur ein paar Meter nach links, direkt vor der früheren Seehydrografischen Station Alt-Mukran, ist kürzlich ein gewaltiges Stück Steilküste abgebrochen – ohne Vorwarnung sind Wiese, Sträucher und eine Holzablage in die Tiefe gestürzt.

»Ich habe gerade ein Nachmittagsschläfchen machen wollen«, sagt Werner Mühle, »dann war ein großer Lärm, wie ein kleines Gewitter.« Man habe die Polizei informiert, schon wegen der Menschen unten am Strand. Es ist ein glücklicher Zufall, dass niemand verschüttet wurde – der Fuß des Abbruchs zieht sich über dreißig Meter an der Küste hin.

Der hünenhafte Mühle, gelernter Elektroingenieur, ist 70 und kennt dieses Fleckchen Erde, das heute zu Sassnitz gehört, seit 57 Jahren. Neben der alten Station, nur über eine zerfahrene Sandpiste zu erreichen, steht noch ein halbes Dutzend Datschen; Mühles blaues Holzhaus ist etwas größer, er ist der Einzige, der ständig hier lebt. Sonnenuntergänge, schäumende See, Bauarbeiten und erste Schiffe am neuen Hafen Mukran – von der Bank aus hatte man einen prächtigen Blick. »Als ich sie aufgestellt habe, waren es noch 15 Meter bis zur Kante, mit den Jahren wurden es immer weniger«, sagt Mühle. »Einen Schlag wie jetzt habe ich aber hier noch nicht erlebt.«

Liegen die Ursachen im Nationalpark?

Doch es ist nicht das Meer, das sich das Land holt, vor Alt-Mukran ist nach dem Hafenbau sogar Strand angespült worden. Einige Kilometer weiter nördlich, im dicht besiedelten Sassnitzer Stadtgebiet, werkelt Michael Friedrich in seinem Schuppen unweit der Küstenkante. In Sassnitz selbst ist die Küste im Januar gleich zweimal abgerutscht, in Friedrichs Nachbarschaft hing plötzlich ein Gartenbungalow in der Luft, andere Grundstücke sind bedroht.

»Es ist das viele Wasser in den Hängen, das die Küste abbrechen lässt«, sagt Friedrich. Seit Sommer habe es besonders viel Niederschlag gegeben, dazu käme die Unvernunft. »Hier hat noch immer nicht jeder eine richtige Ableitung für Regen und Abwasser. Und wozu müssen die Leute bis an die Kante bauen – und die Bäume abholzen?«

Bis zu den Wohnhäusern ist es zwar noch ein Stück hin, aber die Gefahrenzone rückt näher. Der abgerutschte Bungalow gehört ausgerechnet zum weitläufigen Anwesen des Sassnitzer Projektentwicklers und Immobilienkaufmanns Thomas Kaul – wie auch ein Teil des Hangs am Stadthafen, von dem im Januar ein Gemisch aus Schlamm, Geröll und Strauchwerk auf die Strandpromenade niederging. Kaul, Anfang 40, jungenhafter Typ, Dreitagebart, lebt seit 1987 in Sassnitz. Er ist ziemlich erfolgreich: Zu seiner Firma, sagt er, gehören unter anderem 140 Mietwohnungen in der Stadt. Für ihn ist klar wer für die jüngsten Küstenabbrüche verantwortlich ist: das Management des Nationalparks Jasmund und die Stadtverwaltung.

»Vor 1990 wurde das Oberflächenwasser vom Gelände des heutigen Nationalparks über Meliorationsgräben abgeleitet«, erklärt Kaul. Jetzt hieße das Motto »Natur Natur sein lassen«, die Ableitung funktioniere nicht mehr. Auch auf vielen früheren LPG-Flächen hätten sich die Drainagerohre zugesetzt. »Das Wasser sickert in die Hänge und fließt auf der Mergelschicht in Richtung Meer, auch nach Sassnitz.« Seit Jahren mache er darauf aufmerksam, doch die Behörden hätten das ignoriert. Das jetzige Geschehen auf Bautätigkeit zurückzuführen, wie es manche täten, sei Unsinn, dazu seien die fraglichen Flächen viel zu klein.

»Der Mensch ist schuld – aber weil er nichts tut«, sagt Kaul. Und er ist nicht der Einzige, der das Problem vor allem im Nationalpark sieht. Sogar einen Verein haben die Park-Kritiker gegründet: »Einklang von Mensch und Natur e.V«. Und wer sich derzeit in den Wäldern des Jasmund oder auch auf den Felder hinter Mühles Haus umsieht, entdeckt tatsächlich überall viel Wasser in den Senken.

Im Umweltministerium von Mecklenburg-Vorpommern ist man anderer Meinung. Es gebe keinen ursächlichen Zusammenhang zwischen den aktuellen Abbrüchen und dem Nationalpark, lässt sich Minister Till Backhaus (SPD) zitieren. »Hinter solchen Äußerungen verbergen sich wirtschaftliche Interessen einzelner, die die Natur unternehmerischen Zielen unterordnen wollen.«

Der Minister kann sich auf das Landesamt für Umwelt, Naturschutz und Geologie (LUNG) berufen. Ralf-Otto Niedermeyer ist dort Chef des geologischen Dienstes. Er bestätigt, dass es eingesickertes Oberflächenwasser ist, welches die einzelnen Küstenabschnitte irgendwann abrutschen lässt – je nach geologischer Struktur sind bestimmte Stellen eher und mehr betroffen als andere. Und: Ja, es habe vor 1990 im Jasmund-Gebiet punktuell Entwässerungen gegeben, aber ebenfalls immer wieder auch größere Abbrüche.

Experten wurden lange nicht gehört

Tatsächlich sind an der Sassnitzer Küste selbst für den Laien vielerorts alte Abbrüche erkennbar, etwa über der Strandpromenade. Und auch Kaul berichtet davon, dass vor seinem heutigen Anwesen bis in die siebziger Jahre ein Wohnhaus stand, das dann wegen Küstenabbruchs geräumt werden musste. »Das Ganze ist ein natürlicher Prozess, der nicht zum Stillstand gebracht werden kann«, sagt Niedermeyer. »Man kann bestenfalls mit viel Aufwand örtlich bremsen, doch das ist eine Kostenschraube ohne Ende. Manche Ingenieurfirma verdient allerdings auch genau daran.«

Dennoch gibt es menschliche Faktoren, die den Prozess örtlich beschleunigen können, betont der LUNG-Experte. Das sei einmal die zunehmende Bebauungsdichte, noch immer gebe es nicht überall Regenwasserauffanganlagen. Und dann der Massentourismus: Schätzungen besagen, dass das kleine Jasmund-Gebiet jährlich von mehr als einer Million Menschen besucht wird. »Das ist natürlich ein heißes Eisen, ganze Orte hier leben ja nur vom Tourismus«, sagt Niedermeyer. »Wellness-Hotels, Spaßbäder – gerade die sogenannten saisonverlängernden Maßnahmen bedeuten auch, dass die sensiblen Hochuferbereiche selbst im Winter stark frequentiert werden.«

Niedermeyer geht es nicht um ein Entweder – Oder, sondern um Balance. Über Jahre wies das LUNG auf besonders problematische Hochuferbereiche hin, dennoch konnte dort immer wieder gebaut werden. Das gilt auch für Sassnitz: Auf einer »Gefahrenhinweiskarte« haben die Experten das Nordende von Sassnitz, wo auch Kaul und Friedrich wohnen, rot hinterlegt, was bedeutet: Rutschungen sehr wahrscheinlich. 2007 habe man die Stadt schriftlich informiert, sagt LUNG-Mitarbeiter Karsten Schütze, 2008 habe man dort eine Informationsveranstaltung durchgeführt: »Die Stadtverwaltung hat nicht reagiert«.

Im Sassnitzer Rathaus, einem zauberhaften Jugendstilbau, sieht man sich zwischen Baum und Borke. Bürgermeister ist Dieter Holtz von der LINKEN, bei der Direktwahl 2008 kam er mit 77,9 Prozent der abgegebenen Stimmen zum dritten Mal ins Amt. So richtig konkret, sagt er, sei das LUNG mit seinen Warnungen eben nicht geworden. Und er unterstreicht die Verantwortung der Eigentümer der Ufergrundstücke. »Jetzt wird laut nach der öffentlichen Hand gerufen. Aber nehmen wir die Häuser und Pensionen am Absturz an der Strandpromenade: Sie stehen in der ersten Reihe, und mit dem Seeblick wird Geld verdient.«

Wäre es nach Holtz gegangen, wäre die Promenade umgehend wieder geräumt worden. Doch dann traten Anwälte in Aktion, Eigentümerinteressen kollidierten, von einem Wasserohrbruch als mögliche Ursache war die Rede. »Fest steht jedoch, dass ein Teil der Grundstücke da oben bislang von ihren Besitzern nicht an die Regenentwässerung angeschlossen wurden«, sagt Holtz.

Nachdenken über »geordneten Rückzug«

Insgesamt ist Holtz jedoch optimistisch, was die Sicherung des Hangs über der Promenade betrifft – im Gegensatz zu den Abbruchzonen in Alt-Mukran und Nord-Sassnitz. »Dort wird es äußerst schwer«, sagt er. Und verweist auf den Chef des Bauordnungsamtes von Rügen, der in einem Interview schon mal laut über die Aufgabe einzelner Grundstücke nachgedacht hat. Wenn die Küstenschutz-Kosten den Verkehrswert eines Grundstücks um ein Vielfaches überstiegen, so Rainer Roloff, »wäre zu prüfen, ob eine Entschädigung der Eigentümer nicht sinnvoller ist und man der Natur freien Lauf lässt«.

Was Roloff nur andeutet, heißt bei den Experten des LUNG »geordneter Rückzug aus extrem gefährdeten Gebieten«. Eine entsprechende Empfehlung ist auch in der sogenannten Klimafolgenstudie zu finden, die das Landesamt 2008 vorgelegt hat. Das geschah im Auftrag der Regierung von Mecklenburg-Vorpommern – dessen Einwohnerzahl ohnehin seit Jahren sinkt. Man müsse »kurz- bis mittelfristig« derartige Strategien angehen, sagt Niedermeyer.

Werner Mühle in Alt-Mukran wird wohl bleiben. Gerade hat er im Haus renoviert, im Frühjahr will er die Sitzbank ein paar Meter zurücknehmen. »Nein«, sagt der grauhaarige Mann und schaut auf seinen akkuraten Garten. »Nein, hier ziehe ich nicht mehr weg.«

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