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Flugblätter für Passanten, die nicht kommen

Mahnwache in Nörten-Hardenberg – nicht überall hat das Umdenken zur Atomkraft schon die Menschen erreicht

  • Reimar Paul
  • Lesedauer: 3 Min.
Flugblätter für Passanten, die nicht kommen

Die Hauptstraße ist wegen einer Baustelle gesperrt, der Verkehr wird am Ortseingang von Nörten-Hardenberg umgeleitet. Genau an dieser Ecke, an der die Autofahrer rechts in die Umgehung einbiegen, ist am Montagabend die Mahnwache aufgezogen: sechs Frauen und drei Männer, die in der Abgaswolke der vorbeiröhrenden Autos ein Transparent hochhalten. »Aktionsbündnis Mahnwache Nörten-Hardenberg gegen Atomkraft« steht darauf. Einige der Demonstranten haben sich »Atomkraft? Nein Danke!«-Sticker an die Jacken geheftet.

Eine ältere Dame hält einen Packen Flugblätter zu Fukushima unter dem Arm – sie sind für die Passanten gedacht, die hier allerdings kaum vorbeikommen. Nörten-Hardenberg in Südniedersachsen ist ein Flecken, also nicht mehr Dorf, noch lange nicht Stadt, rund 8000 Einwohner inklusive der Bewohner eines halben Dutzend eingemeindeter Orte im Umland. 30 Kilometer nordöstlich beginnt der Harz, 20 Kilometer nordwestlich liegt der Solling, 15 Kilometer südlich die Universitätsstadt Göttingen mit ihrer bunten politischen Szene. In Nörten-Hardenberg gibt es keine solche Szene. Der Bürgermeister ist von der CDU, bei der letzten Kommunalwahl 2006 kandidierten noch nicht einmal die Grünen.

Einige Mitglieder hat die Partei hier aber doch, zum Beispiel Frauke und Jens Humpe. Zusammen mit ein paar anderen Leuten wie dem Autor und Wissenschaftsjournalisten Holdger Platta, der in dem noch kleineren Nachbarort Sudershausen lebt, organisiert das Ehepaar die Mahnwachen. Sie haben Bekannte angesprochen, viel herumtelefoniert, sich einen Abend lang getroffen und diskutiert. Das Ergebnis der Bemühungen, sagt Frauke Humpe, könne sich doch sehen lassen. »Letzten Montag waren wir fünf, heute sind wir schon fast doppelt so viele.« Dafür hatten sie letzten Montag einen besseren Platz, da standen sie vor der evangelischen Kirche gegenüber und nicht direkt im Auspuffqualm. Vom Kirchplatz habe sie aber der Gemeindevorstand verscheucht, erzählt Jens Humpe. »Die hatten offenbar die Befürchtung, mit einer Partei in Verbindung gebracht zu werden. Dabei ist unsere Mahnwache doch gar keine Parteiaktion«.

In Göttingen hat die Kirche keine Berührungsängste, da machen Pastoren aktiv bei den Mahnwachen mit, und neulich bei der großen Demo hat nach einem Ex-Kommunisten sogar der Superintendent gesprochen. In Nörten-Hardenberg patrouilliert alle zwei Minuten ein Streifenwagen an der Mahnwache vorbei. Die beiden Beamten kontrollieren, ob die Demonstranten auf dem Bürgersteig stehen oder etwa mit einem Fuß auf der Straße.

Das dürfen sie nämlich nicht, hat das Nörten-Hardenberger Ordnungsamt mitgeteilt. Davon abgesehen, berichtet Frauke Humpe, war die Behörde sehr kulant, »die hat uns gleich für die nächsten zehn Wochen eine Genehmigung für die Mahnwache erteilt, immer montags um halb sechs. Hier, sehen Sie selbst«, sagt Humpe und zeigt den Bewilligungsbescheid des Amtes mit Stempel, Unterschrift und allem Drum und Dran vor. Ohne das Papier würden sie sich nicht hierher trauen.

Bei den Mahnwachen wollen es die Nörten-Hardenberger Umweltschützer nicht bewenden lassen. Für die nächste Woche planen sie eine Veranstaltung zum Thema, der emeritierte Göttinger Chemieprofessor und Atomkraftgegner Rolf Bertram hat schon als Referent zugesagt, vielleicht wird eine ganze Reihe daraus.

Die Schwierigkeit besteht darin, die Leute anzusprechen und zu motivieren. Flugblätter anzunehmen und zu lesen, das sind die Nörten-Hardenberger einfach nicht gewohnt. »Und an die Schulen dürfen wir auch nicht«, sagt Jens Humpe. Dann hupt ein Autofahrer. Ist das ein Gruß an die Demonstranten? Eher nicht, der tief gelegte Golf ist schon um die Kurve und beschleunigt mit quietschenden Reifen. Aus dem geöffneten Seitenfenster reckt der Beifahrer den Stinkefinger.

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