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Trübe Gewässer

Neonazis wollen die Demminer Selbstmordwelle von 1945 instrumentalisieren

  • Velten Schäfer
  • Lesedauer: 3 Min.
Hunderte Tote gab es Anfang Mai 1945 bei der Plünderung von Demmin durch die Rote Armee. Nun wollen Neonazis aus der Geschichte Kapital schlagen – von deren genaueren Umständen sie nichts wissen wollen.

Beschaulich zieht die Peene durch Demmin, friedlich und glitzernd, alles andere als ein trübes Gewässer. Doch am Sonntagabend soll das Flüsschen in der Noch-Kreisstadt Schauplatz eines gespenstischen Szenarios werden: Unter anderem NPD-Landeschef Udo Pastörs und andere rechtsradikale Größen wollen zum Flussufer ziehen, um dort ihren Geschichtswahlkampf für die Landtagswahl einzuläuten. Und auf dem anderen Ufer, wenn auch seitlich versetzt, werden die Gegner dieses Spektakels ein Fest feiern, um gegen die Vereinnahmung ihres Ortes durch die braune Partei und ihre Kameraden ein Zeichen zu setzen. Noch nie, sagt Christian Schössler, der die Gegenaktivitäten mit organisiert, hätten so viele ihre Mitarbeit zugesagt wie dieses Jahr. Es sind die üblichen Akteure: Gewerkschaft, Linkspartei, Studenten aus Greifswald. Der neue katholische Priester macht immerhin einen Friedensgottesdienst.

Demmin hat seit etwa drei Jahren ein massives Nazi-Problem, für das weder Stadt noch Landkreis etwas können: Die Neonazibewegung will das Städtchen, das in Reportagen über den »ärmsten Landkreis Deutschlands« schon so oft als Kulisse für Klischees herhalten musste, nun auch noch zum »Dresden des Nordens« ausrufen: ie jüngere Geschichte der Stadt wird als Zeitzeugin gegen den »Befreiungsmythos« aufgeboten. In ihrem Aufruf schreiben die »Volkstreuen Kräfte«, die Rote Armee habe erst die (erheblichen) Alkoholvorräte »ausgeraubt« und dann grund- und wahllos mit Massenvergewaltigung, Morden und Plünderungen begonnen und schließlich die Stadt niedergebrannt. Aus »Angst und Scham« hätten sich »über 1000« Einwohner das Leben genommen – daran wollen die Neonazis nun mit einem »Ehrendienst« mit Fackeln gedenken.

Fest steht, dass Demmin gebrannt hat, dass es eine regelrechte Plünderung gab, Selbstmorde und noch Wochen später Leichen in der Peene. Allerdings kann das Kreisgeschichtsmuseum die kolportierten Zahlen nicht bestätigen. Seit vergangenen Herbst hat man Totenbücher und Friedhofsregister überprüft – und ist auf etwa 560 Tote aus den Tagen kurz vor dem Kriegsende gekommen, ungeklärte Fälle eingeschlossen.

In der DDR spielte all das aus erdenklichen Gründen keine große Rolle. Dass »weitgehend ein Tabu« über der Tragödie gelegen habe, sagt auch Christian Schössler. Das ist nun Wasser auf die Nazi-Mühlen. Dennoch versucht die Stadt, die sich anfangs lieber wegduckte vor dem braunen Besuch, inzwischen mehr dagegen zu halten. Am Mittwochabend etwa durch eine Diskussion zur Lokalgeschichte, bei der auch Zeitzeugen zu Wort kamen. Manche haben tatsächlich die ganze Familie verloren in den Tagen, als der Krieg schon fast vorbei war.

Doch bei genauerem Hinsehen gewinnt die Geschichte an Facetten. So wollten die Rotarmisten sich wohl eigentlich nicht lange in Demmin aufhalten, sondern nach Rostock weitermarschieren. Zu dem »Stau« in Demmin ist es nur gekommen, weil dort die Brücken gesprengt worden waren und die Truppen einstweilen nicht weiterkamen. In der Stadt, die wie Schössler sagt, schon vor 1933 eine braune Hochburg war, hat es zudem Einzelne gegeben, die aus Häusern auf Soldaten schossen. Namentlich bekannt ist etwa ein Lehrer, der erst seine Familie tötete und dann auf die Soldaten feuerte. Ein Zeitzeuge, seinerzeit im Schützengraben, beteuerte in einem Brief an den Demminer Bürgermeister, drei russische Unterhändler, die eine kampflose Übergabe aushandeln wollten, seien zuvor erschossen worden. Zudem starben mehrere russische Offiziere, nachdem sie von der Stadtapothekerin offenbar vergifteten Wein verabreicht bekommen hatten. Die letzten Nazis haben das Unglück gerufen, nun »trauern« ihre Erben. Das ist es, was Christian Schössler am meisten ärgert. Er stammt aus Dresden und hat die Bomben überlebt.

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