Tägliches Gift seit Jahrhunderten?
Das Chemie-Zwischenprodukt Acrylamid entsteht beim Frittieren und Backen
Die schlechte Nachricht für alle Fans von Kartoffelchips und Pommes Frites: Die WHO-Experten empfehlen etwas mehr Zurückhaltung beim Verzehr der frittierten Kartoffeln und anderer scharf gebackener Produkte mit hohem Kohlehydratanteil. Darunter fallen neben den ohnehin als wenig gesund geltenden fettigen Kartoffelstäbchen und Scheibchen auch einige Favoriten gesunder Ernährung, wie die auf vielen Frühstückstischen unentbehrlichen Cornflakes oder das Knäckebrot.
Damit steht die Wissenschaft noch immer an dem gleichen Punkt, wo sie bei der Entdeckung des Acrylamids in hocherhitzten Lebensmitteln vor zwei Jahren stand. Die schwedischen Wissenschaftler um Margaretha Thörnqvist von der Uni Stockholm haben seither eine Vielzahl von Lebensmitteln mit einer besonders empfindlichen Messmethode durchsucht, und wurden auf breiter Front fündig (siehe unten).
Offen ist bislang, wie die giftige Substanz in die genannten Lebensmittel hineinkommt, ebenso ungewiss, wie gefährlich sie tatsächlich für den Menschen ist. Für die Entstehung gibt es immerhin einige Annahmen. Nach bisheriger Kenntnis entsteht Acrylamid offenbar beim Backen und Frittieren bei Temperaturen über 120 Grad Celsius. Die Anwesenheit von Fett scheint ebenfalls von Bedeutung zu sein. Denn nach Auskunft von Dr. Norbert Haase von der Bundesanstalt für Getreide-, Kartoffel- und Fettforschung in Detmold liegt die Acrylamid-Belastung von Brot und Knäckebrot bei jenen Sorten höher, die mit Ölsaaten (z.B. Sesamkörnern) bestreut sind.
Haase sieht auch deshalb einen Zusammenhang zum Fett, weil sich Glycerin (ein Fettbestandteil) bei hohen Temperaturen in Anwesenheit von Wasser in eine Vorstufe des Acrylamids umwandelt. Prof. Erich Windhab von der ETH Zürich vermutet, dass das Gift bei der so genannten Maillard-Reaktion, einer wichtigen Reaktion bei der Bräunung von Lebensmitteln entsteht. Diese Vermutungen bleiben allerdings eine Erklärung für die große Streuung der Belastung bei an sich gleichartigen Produkten schuldig.
Dennoch scheint klar, dass das Acrylamid kein neues Problem ist, sondern die Menschheit begleitet, seit sie Backen gelernt hat. Deshalb wäre es immerhin denkbar, dass der menschliche Organismus Abwehrmechanismen gegen die Substanz entwickelt hat, die den bei Tests verwendeten Tieren fehlen.
Angesichts so vieler Unklarheiten sehen sowohl WHO und FAO als auch eine kürzlich beim deutschen Bundesinstitut für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin zusammengetroffene Expertengruppe noch beträchtlichen Forschungsbedarf. Bislang existiert de facto noch nicht einmal ein Grenzwert für Acrylamid in Lebensmitteln. Für den Übertritt der Substanz aus Verpackungsmaterialien und für Trinkwasser wurde lediglich festgelegt, dass die Substanz - da unerwünscht - nicht nachweisbar sein darf. Die dieser Vorschrift zu Grunde gelegte Nachweisgrenze liegt bei 10 Mikrogramm pro Kilo. Zwar überschreiten manche Produkte diesen Wert zwei- bis viertausendfach, das sagt aber nichts über die tatsächliche Gefährdung, da der Wassergrenzwert selbst ohne exakte medizinische Grundlage nach dem Grundsatz der Vermeidbarkeit festgelegt wurde. Die deutschen Experten sind trotz inzwischen vorliegender vergleichbarer Daten aus Großbritannien und Norwegen zudem noch nicht so ganz von der Verlässlichkeit der schwedischen Messmethode überzeugt. Im Abschlussbericht der Expertentagung wird zudem konstatiert, dass es in keinem deutschen Labor eine als sicher bewertete Analytik für Acrylamid gebe.
Ungeachtet aller offenen Fragen könnte die Aufregung über das neue alte Pommes-Gift vielleicht wenigstens ein Gutes haben: dass manche zweifelhafte »Kindermenüs« des Typs »Pommes rot-weiß« endlich von den Karten der System- und Schnellgastronomie verschwinden und durch etwas sinnvollere Angebote abgelöst werden.
Getestet
Bei Tests im Auftrag des Magazins »Öko-Test« (7/2002) wurden in Kartoffelchips 340 bis 1525 Mikrogramm (µg) Acrylamid pro Kilo gefunden. In Schweden geprüfte Produkte kamen sogar auf 2287 µg.
Deftige Werte auch bei den Pommes Frites der großen Fastfood-Ketten: So variierte die Acrylamid-Menge pro Kilo Pommes bei McDonald zwischen 379µg und 916µg. Noch heftiger bei Burger King: 483 bis 1107 µg. Auf ähnlich hohe Werte kamen selbst in der Röhre gebackene Feinfrost-Pommes bei längerer Backzeit.
Auch Knäckebrot hatte bei Tests im Auftrag der ARD-Sendung »plus minus« einiges zu bieten: von unter 20µg bei Lieken Urkorn Vollkorn-Knäcke bis zu 337µg bei Wasa Vollkorn-Knäcke und 376µg bei Burger Roggen-Vollkorn Knäckebrot.
Nicht nur Herzhaftes, auch Süßes ist betroffen: Bei Leibniz Butterkeksen maßen die Berliner NAFU-Chemiker im Auftrag von »plus minus« 888µg pro Kilo. Bei gekochten Speisen - von Spaghetti bis Kartoffeln - fanden die schwedischen Lebensmittelprüfer samt und sonders weniger als 30µg Acrylamid pro Kilo.
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