Mein Freund, das Display

MEDIENgedanken: Herrschaft der digitalen Maschinen

  • Rainer Kreuzer
  • Lesedauer: 5 Min.

Es gab Zeiten, zu denen konnten gemeinsame Fahrten im Auto unterhaltsam sein. Als Beifahrer suchte ich im Stadtplan den Weg, rätselte mit dem Fahrer darüber, wo wir uns denn gerade befinden. Wenn die Straßenverzweigungen allzu knifflig waren, stoppten wir bei einem Passanten und fragten ihn um einen Hinweis.

Seitdem meine Freundin ihr »Navi« hat, sind die gemeinsamen Fahrten zum Lehrstück einer entfremdeten Kommunikation geworden. Kaum, dass ich ansetze, die Stimme erhebe und eine Frage zu stellen wage, fällt mir unser elektronischer Beifahrer in den Satz. »In 200 Meter rechts abbiegen. In 100 Meter rechts abbiegen. Rechts abbiegen.« Unsere Unterhaltung wird abrupt unterbrochen. »Störer haben Vorrang«, wusste schon der Kommunikationspsychologe Friedemann Schulz von Thun. Unser Störer hat eine wichtige Botschaft, die gehört werden muss. Bis zur nächsten Kreuzung sind es noch 500 Meter. Ein neuer Versuch, mit einer Unterhaltung zu beginnen, erscheint wenig aussichtsreich. Das »Navi« hat Vorrang.

Es fesselt den Blick auf sein Display, dessen Radius nur die nächsten beiden Kreuzungen umfasst. Straßenschilder, Häuserfassaden, Bäche und Hügel – die Landschaft, durch die man gerade fährt – wird zur Makulatur, zu bedeutungsarmem Flimmern, das sich neben der digitalen Bühne abspielt. Wir reisen online: von Displayanzeige zu Displayanzeige.

Als mir mein Handy kürzlich die Botschaft anzeigte, es sei eine Sprachnachricht in meiner Mailbox eingetroffen, rief ich den Service meines Anbieters an, um den digitalen Anrufbeantworter stilllegen zu lassen. Denn die Ansagen können Termine vermelden, geschäftliche Aufträge oder Absagen. Nur, an sie ran zu kommen, erfordert einen weiteren Speicher in meinem Gedächtnis, über den ich nicht verfüge: Wie lautet die Tastenkombination für das Abfragen meiner Mailbox? Fehlanzeige! An SMS und E-Mails habe ich mich längst gewöhnt, aber an eine Mailbox – nie im Leben. Der Anruf bei der Servicezentrale mündete in eine Instruktion mittels einer Sprachmaschine: »Für … drücken Sie die Eins, für … drücken Sie Zwei…« Der Dialog zwischen Tastatur und Stimmgenerator führte mich dann zu einer lebendigen Herrenstimme, die mir nur sagen konnte, dass ich meine Mailbox zunächst aktivieren müsse, wenn ich sie nicht haben wolle, um sie nach der Aktivierung über eine ausgetüftelte Tastenkombination wieder stilllegen zu können. Genau das wollte ich gerade nicht.

Bei meinem Versuch, wieder zurück in die menschliche Realität zu finden, rufe ich eine Kollegin an, um mich mit ihr zum Kaffee zu verabreden. Ich spreche ihr auf den AB. Die Antwort erfolgt per SMS. Im Café, in dem wir uns treffen wollen, erreicht mich erneut eine SMS von ihr: sie ist auf dem Weg. Als sie endlich da ist, klingelt ihr Handy. Die Mutter ist dran. Auch die Unterhaltung der beiden Herren am Nachbartisch wird elektronisch unterbrochen. Zum Telefonieren verlässt der erste den Raum. Das Gespräch zieht sich in die Länge. Sein Kumpel beginnt, sich zu langweilen und zückt sein Handy. Mit dem Tippen auf seinen Tasten gelingt es ihm, sich die Zeit zu vertreiben.

Machen Offline-Verabredungen und echte Treffen mit Freunden im Zeitalter digitaler Kommunikation überhaupt noch Sinn oder sind sie inzwischen so antiquiert wie die Pferdekutsche seit dem Siegeszug der Verbrennungsmotoren? Bei manchen Leuten wird es zeitlich schon lange eng, einen Termin dafür zu finden. Sie sind täglich verabredet: angeblich mit Freunden in Neuseeland und den USA – tatsächlich eher mit ihrem PC, gegen den kein menschlicher Mitbewohner konkurrieren könnte. Selbst dem sonnigen Wetter, bei dem ich den Badestrand nicht missen will, ist es nicht vergönnt, die beiden Söhne meines Nachbarn hinterm Monitor hervorzulocken. Jeder von ihnen sitzt für sich in seinem Zimmer und spielt mit seinen »Freunden« – nicht Fußball, nicht Schnitzeljagd, Halma oder Lego, sondern virtuelle Rollen per Tastatur und Display.

Die Beziehung einer Freundin meiner Freundin mit ihrem Lover in Australien wird per Webcam gepflegt. Zum 1. Mai waren sie zum Essen verabredet. Julia hatte sich fein gemacht, den Tisch gedeckt und ein Fünf-Gänge-Menü aufgefahren. Doch es blieb beim Dinner for one: James vergaß seinen Wecker zu stellen. Wo auch sonst, außer in der Cyberwelt, lassen sich heute noch Liebespartner auftreiben? Das mutige Ansprechen in der U-Bahn scheitert am MP3-Player und dessen Stöpseln in den Ohren, die jede Kontaktaufnahme abschirmen. Das Netbook auf der Parkbank generiert den Appell: Bitte nicht stören! Junge Männer, die sich auf öffentlichen Gehwegen grundsätzlich nur mit mindestens einem Handy an der Wange bewegen, scheinen für die Freuden dieser Welt verloren.

Es erinnert ein wenig an Günter Anders' These von der »Antiquiertheit des Menschen«, als sei sie Wirklichkeit geworden. Der Mensch wird zunehmend überflüssig und von Maschinen ersetzt – jetzt auch in der Freizeit, dem, was Karl Marx einst die Reproduktion nannte. Auch nach der Arbeit ist der Mensch keineswegs mehr bei sich und zu Hause, sondern Anhängsel digitaler Schaltprozesse, die ihn entfremden, ihn von seinem unmittelbaren menschlichen Gegenüber trennen. Zwischen First- und Second-Live verschwimmen die Grenzen. Kein Wunder, dass es in vielen Einkaufsstraßen kaum noch andere Geschäfte als Handyläden gibt. Jugendliche verschulden sich für Flatrates und Klingeltöne. Das scheinbar reale Leben findet auf dem Sofa vor der Sat-1-Talkshow statt. Hätte das Mubarak gewusst, er hätte sich seinen riesigen Polizeiapparat sparen können und wäre bestimmt noch immer an der Macht.

Die Autor ist freier Journalist und lebt in Hamburg.

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