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Flexibel, Fachkraft, Deutschkenntnisse

Beginnt in Szczecin die Wiedergeburt des deutschen Anwerbeapparates für Arbeitskräfte?

  • Velten Schäfer, Szczecin
  • Lesedauer: 6 Min.
Bis Mai glaubte Deutschland, seinen Arbeitsmarkt durch Sonderregeln nach Osten abschotten zu müssen. Nun geht man nahtlos von der Aussperrung zur Anwerbungsoffensive über – etwa in Szczecin, wo nun die Arbeitskräfte gefunden werden sollen, die Mecklenburg-Vorpommern nicht mehr hat.
Polnische Handwerker wie diese beiden Pflasterspezialisten sind nun auch in Deutschland willkommen.
Polnische Handwerker wie diese beiden Pflasterspezialisten sind nun auch in Deutschland willkommen.

Das Szczecin Arbeitsamt ist ein ziemlich imposanter Bau. Etwas zurückgesetzt steht er an der Ulica Adama Mickiewicza, um die Ecke vom Warschau-Boulevard. Wer sich dem preußischen Gemäuer nähert, vergisst nicht, dass es sich um ein Arbeitsamt handelt – und zwar um ein polnisches. Genau das aber, lacht Agnieszka Garncarz, die Sprecherin des Wojewódzki Urzad Pracy zu Szczecin, kann passieren, wenn man die deutschen Zeitungen liest.

»Arbeitsamt eröffnet Büro in Stettin« – in Deutschland ist das eine große Nachricht, wie Karen Kunkel von der Arbeitsagentur in Neubrandenburg bestätigt: »So viel Medieninteresse war selten«, sagt Kunkel. Seit die Arbeitsagenturen in Neubrandenburg und Stralsund das Beraterbüro in Szczecin besetzt haben, in enger Kooperation mit der polnischen Arbeitsverwaltung, rennen die Zeitungen ihr die Tür ein.

Rückkehr der Anwerbebüros?

Dabei ist die Story eigentlich viel größer als der Sachverhalt. EURES heißt das EU-Programm zur Förderung der Arbeitnehmermobilität, das seine Dienste nun auch in Szczecin anbietet – und es ist schon fast 20 Jahre alt. Die drei Beraterinnen, die einmal die Woche ihren Dienst in Stettin tun, sind auch nicht erst seit gestern im Einsatz, nur musste man bisher nach Pasewalk oder Stralsund fahren, um sie zu sprechen.

Dass EURES-Berater im Ausland potenzielle Grenzgänger beraten, ist alles andere als außergewöhnlich. Es gibt Grenzregionen, etwa die rund um den Bodensee, in denen in buchstäblich jeder nicht-deutschen grenznahen Kleinstadt eine solche Beratungsstelle zu finden ist. Insgesamt pflegt Deutschland mit 22 Staaten sogenannte EURES-Partnerschaften.

Dass das Szczeciner EURES-Büro nun so viel Welle macht, muss also an einer mentalen Voreinstellung liegen. Einmal hat sich die deutsche Gesellschaft offenbar schleichend daran gewöhnt, besonders osteuropäische Arbeitskräfte als eine Bedrohung zu sehen – und steht nun vor der Denksportaufgabe, diese Haltung wieder zu revidieren. Nur vor diesem Hintergrund erinnert die EURES-Beratungsstelle in Szczecin viele Journalisten offenbar an die Anwerbebüros, die die Bundesrepublik in den 60er Jahren bei der Suche nach »Gastarbeitern« etwa in Italien errichtete – während ein Büro in der Schweiz oder Belgien als völlig normaler Teil des kleinen Grenzverkehrs gilt.

Die EURES-Beraterinnen in Szczecin haben zwar Zugriff auf das gesamte deutsche Jobangebot. Dass sie das Fachkräfteproblem auf der deutschen Seite lösen könnten, glaubt Karen Kunkel allerdings nicht. Etwa 60 Interessenten kamen durchschnittlich zu den fünf Terminen, die es in Szczecin gegeben hat, nicht wenig für drei Beraterinnen – aber doch eine überschaubare Zahl für eine Stadt, die mit Umland und Einzugsgebiet knapp eine halbe Million Einwohner hat. Kunkel setzt da kleinere Ziele: Schön wäre es zum Beispiel, sagt sie, wenn es gelänge, einen kleinen Grenzverkehr zwischen Szczecin und seinen historischen deutschen Vororten überhaupt in Gange zu bringen – ein ganz normales Nachbarschaftsverhältnis mit Berufspendlern in beide Richtungen. »An der deutsch-niederländischen Grenze war das doch auch undenkbar kurz nach dem Krieg«, sagt sie.

Die jungen Polen sind wählerisch geworden

Allerdings haben sich die Kriterien geändert. Während Deutschland in den 50er und 60er Jahren vor allem »Masse« suchte, ungelernte Arbeiter für seine wiedererstandenen Fließbänder, soll es nun auch ein bisschen »Klasse« sein. »Fachkräfte, flexibel, mit Deutschkenntnissen«, fasst Karen Kunkel das Anforderungsprofil zusammen. »Die Arbeitnehmerfreizügigkeit für Bürger aus Polen ist für Mecklenburg-Vorpommern eine Chance. Wir sollten sie nutzen«, sagt auch Jürgen Goecke, der Chef der Regionaldirektion Nord der Bundesanstalt für Arbeit. Erfahrungen aus England und Irland zeigten, dass aus Polen »überwiegend junge und motivierte Fachkräfte« aus Polen einwanderten.

Als Beispiel für die Chancen der neuen Situation zeigt Kunkel eine Folie. Es gibt Bereiche, in denen sich Mecklenburg-Vorpommern und der Nordwesten Polens geradezu lehrbuchhaft ergänzen könnten. Da ist zum Beispiel das Problem mit den Köchen: Während Fachkulinariker in Mecklenburg-Vorpommern inzwischen händeringend gesucht werden, sind viele hundert Köche im Nordwesten Polens auf der Suche nach Arbeit. »Das ist eine Win-win-Situation«, sagt Kunkel.

Theoretisch zumindest. Denn noch hat der große Transfer der Küchenchefs nicht begonnen. Das liegt auch daran, dass gerade die beweglichsten, gut ausgebildeten jüngeren Arbeitnehmer inzwischen selbstbewusster sind als noch vor zehn Jahren. »Die jungen Leute kennen ihren Wert viel besser und wissen, dass Europa groß ist«, sagt etwa Cezary Gmyz, der Deutschlandexperte der konservativen polnischen Tageszeitung »Rzeczpospolita«. Studien zeigten, dass das Englische dem Deutschen gerade unter den Jungen längst den Rang abgelaufen hat.

Nur 1000 Zuzügler jährlich erwartet

Es scheint also so zu sein, dass Deutschland tendenziell wird werben müssen – auch und gerade um die Polen. Seit bald einem Jahrzehnt sind es die jungen Polen gewohnt, im westlichen Ausland als vollberechtigte europäische Bürger zu gelten statt als Bittsteller und Lückenbüßer aus dem Osten. Nur in Deutschland herrschte noch die alte Mentalität, seit die rot-grüne Regierung von Gerhard Schröder mit ihrer europaweit fast einzigen Sonderaussperrung für Osteuropäer lieber auf die Stimmungen am Stammtisch reagierte, als Deutschlands Arbeitsmarkt und Lohnsystem auf die neuen Verhältnisse umzustellen – was allerdings auch der Schröderschen Deregulierungspolitik auf den Arbeitsmärkten fundamental widersprochen hätte.

All das muss man jetzt erst einmal zurückdrehen, und zwar auf beiden Seiten der Grenze. Einmal bei den Polen, an denen die Spargelstecherklischees des vergangenen Jahrzehnts nicht spurlos vorbeigegangen sind – und bei den Deutschen, bei denen die historisch überholte Angst vom Polen, der den Arbeitsplatz wegnimmt, offenbar noch tief sitzt. »Es gibt in Mecklenburg-Vorpommern keinen Grund zur Besorgnis«, beruhigt etwa Goecke. Laut dem agentureigenen Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) werden in den nächsten Jahren jeweils rund 1000 polnische Bürger pro Jahr zuziehen. Das Land zählt etwa 730 000 Erwerbstätige, allein seit Jahresbeginn seien den Arbeitsagenturen im Land 15 500 versicherungspflichtige Stellen gemeldet worden, beschreibt Goecke die tatsächlichen Relationen.

Bedarf statt Gedrängel – schon die vergangenen Jahre zeigen auf, wie sehr sich die Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt links der Oder gedreht haben. Und dass sich die Lage weiter in diese Richtung entwickelt, lässt sich an den Arbeitnehmern von morgen ablesen. In Mecklenburg-Vorpommern gibt es dieses Jahr 10 500 gemeldete Ausbildungsplätze – was dem Niveau von 2001 entspricht – bei aber nur noch 7000 von der Arbeitsagentur geführten Bewerbern; der DGB Nord, der auch zuvor leer ausgegangene »Altbewerber« mitrechnet, kommt auf etwa 8800 ausbildungssuchende Jugendliche – das sind noch immer deutlich weniger, als angeboten wird. Und der Trend setzt sich jetzt schon im fünften Jahr fort. Das heißt einmal, »dass die Jugendlichen jetzt auch genommen werden, wenn die Schulnoten nicht so stimmen«, sagt Karen Kunkel – und auf der anderen Seite, dass bald auch junge Polen für Lehrstellen gesucht werden.

Auch das ist nicht ganz einfach, denn betriebliche Ausbildungen sind in Polen nicht angesehen. Wer irgendwie kann, versucht auf eine Universität zu gehen. »Das Ausbildungssystem ist ganz anders, viele Jugendliche wissen nicht einmal, dass Auszubildende in Deutschland gut bezahlt werden«, sagt Karen Kunkel. Doch am vergangenen Dienstag sei bereits ein Interessent im Szczeciner Beratungszentrum gewesen.

Er soll nicht der letzte bleiben. In Neubrandenburg und Stralsund denkt man intensiv über eine Aufklärungskampagne nach.

Szczecin hat zwei Gesichter. Die Werft zum Beispiel wurde gerade erst geschlossen, der Hafen wird dagegen ausgebaut.
Szczecin hat zwei Gesichter. Die Werft zum Beispiel wurde gerade erst geschlossen, der Hafen wird dagegen ausgebaut.
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