Die Staatsmacht ist ein enges Hemd am Körper geblieben

Gespräch mit dem Damaszener Historiker und Publizisten Michel Kilo

  • Lesedauer: 7 Min.
Michel Kilo (71) stammt aus Latakia und ist Christ. Er studierte Geschichte, Publizistik und Volkswirtschaft in der BRD. Danach war er als Journalist für verschiedene libanesische Zeitungen tätig, zum Beispiel für die Beiruter Blätter Al Nahar und Al Safir. In Publikationen setzte sich Kilo mehrfach mit der Entwicklung des syrischen Staates unter Hafez al-Assad, Präsident von 1970 bis 2000, auseinander. Dafür wurde er 1979 ohne Gerichtsverfahren für zwei Jahre inhaftiert. Kilo warf Assad die Unterdrückung demokratischen Gedankengutes und insgeheime Kollaboration mit den USA vor.

Auch unter dem nächsten Präsidenten Assads Sohn Baschar, war Kilo von 2006 bis 2009 im Gefängnis. Unter den rund 150 Oppositionellen, die sich am 27. Juni in einem Damaszener Hotel trafen, um ein Ende der Gewalt zu fordern und für einen demokratischen Neuanfang zu werben, war auch Kilo. In dieser Woche hatte Karin Leukefeld in Damaskus Gelegenheit, mit ihm zu sprechen.
Michel Kilo
Michel Kilo

ND: Das Treffen von 150 Oppositionellen am 27. Juni – war das ein historischer Tag für Syrien?
Kilo: Ich hoffe, dass das er das war. Für uns war es ein historischer Tag. Zum ersten Mal seit 50 Jahren konnte so etwas in Damaskus stattfinden.

Es hieß, das Treffen hätte mit Zustimmung der Regierung stattgefunden.
Solche Treffen waren noch vor wenigen Monaten so gut wie undenkbar. Jetzt ist es möglich geworden, weil wir dazu beitragen, dass Lösungen gefunden werden. Wir sind jetzt Teil dieses Spiels geworden, Bis vor kurzem waren wir noch ausgeschlossen.

Es gibt Vorwürfe, einige Oppositionelle, auch Sie, würden mit Ihrem Verhalten das gewaltsame Vorgehen der Regierung legitimieren.
Ja, die Vorwürfe gab es, aber nach dem Kommuniqué nicht mehr. Die Leute, die das gesagt haben, konnten sehen, dass wir ehrliche Opposition betreiben, und dass sie sich geirrt haben. Zugespitzt gesagt: Als es gerade mal fünf Personen gab, die in Syrien für die Freiheit gekämpft haben, gehörten wir dazu. Und jetzt, wo es Millionen Menschen auf der Straße gibt, die für die Freiheit kämpfen, werden wir die Sache der Freiheit bestimmt nicht verkaufen.

Wer gehört außer Ihnen zur Opposition in Syrien?
Es gab in Syrien traditionell zwei Richtungen der Opposition, die selbstständig agierten, aber zusammenarbeiteten: Einmal die kulturelle oder Opposition der Intellektuellen und zum zweiten die politische Opposition. Wir Intellektuelle sind die Leute der Zivilgesellschaft. In den letzten drei, vier Monaten haben wir vergeblich versucht, die politische Opposition zusammenzubringen. Also haben wir uns gesagt, warum arbeiten wir nicht nochmals als Unabhängige? Versammeln wir uns, verbinden wir uns mit der Bewegung auf der Straße, nehmen wir Einfluss auf diese traditionelle Gesellschaft, die die ganze Zeit demonstriert. So isolieren wir die Anpasser genauso wie die Radikalen und öffnen den Weg für eine politische Lösung. Das war der Zweck dieses Kongresses.

Wer ist diese »traditionelle Gesellschaft, die die ganze Zeit demonstriert«?
In Syrien gibt es zwei Arten von Gesellschaft. Eine Zivilgesellschaft und eine traditionelle Gesellschaft, wir nennen sie Ahliya. Das ist die Gesellschaft der einfachen Menschen.

Die Zivilgesellschaft ist die Gesellschaft der freien Individuen. In der traditionellen Gesellschaft hat die Gruppe die Priorität. Die Menschen zum Beispiel in Homs sind vielleicht nicht hundertprozentig traditionell, sie sind aber die Gesellschaft der Majorität. Und die demonstriert jetzt zum ersten Mal, zum Glück, für die Freiheit. Nie in ihrem früheren Leben haben sie für die Freiheit demonstriert, nie für das Individuum. Nie für die Staatsbürgerschaft, nie für die Zivilgesellschaft, nie für einen zivilen Staat. Nie haben sie das getan. Zum ersten Mal demonstrieren sie für die Werte, die die moderne Welt geschaffen hat. Ich sehe das als einen Wendepunkt, den wir nutzen müssen, um tatsächlich aus dieser despotischen Geschichte unseres Landes herauszukommen.

Was gibt Ihnen die Hoffnung, dass diese Menschen sich tatsächlich hin zu einer modernen Gesellschaft entwickeln?
Weil kein Mensch sie dazu zwingen kann, Freiheit zu sagen. Sie sagen das aber jetzt aus vollem Herzen. Vor 30 Jahren haben sie »Islam« gesagt, heute sagen sie »Freiheit«. Die Gesellschaft hat sich modernisiert, ist gewachsen in den letzten 40 Jahren. Die Macht aber ist ein enges Hemd für diesen Körper geblieben. Jetzt zersprengt der moderne Körper das traditionelle Hemd.

Dieses Regime gibt sich aber doch sehr modern.
Das ist kein modernes Regime, nein. Es ist ein despotisches Regime. Es gibt keine Moderne der Strukturen, keine Moderne der Ideen, keine Moderne der Beziehungen. Es ist eine äußerliche Moderne.

Wie kann man modern sein, wenn man nicht frei ist? Wie kann man modern sein, wenn man nicht frei denken kann? Wie kann man modern sein, wenn man keine Möglichkeit hat, sich mit der Welt in Kontakt zu setzen? Wie kann man modern sein, wenn man sein eigenes Schicksal nicht bestimmen kann?

Dennoch wollen Sie mit diesem Regime in einen Dialog eintreten, mit welchem Ziel?
Mit dem Ziel, ein Übergangsregime zu bauen, das uns zu einem freiheitlichen, demokratischen Staat führt. Das ist das einzige Ziel. Wenn sie darüber nicht reden wollen, dann sind wir nicht bereit, mit ihnen zu verhandeln.

Diese Opposition, die da am 27. Juni zusammen kam, bestand ja fast ausschließlich aus älteren Leuten, die schon seit vielen Jahren aktiv sind.
Es waren aber auch etwa 15 jüngere Leute da, richtige Jugendliche. Mit ihnen kam ein sehr harter Ton in den Saal. Sie wollen keine Verhandlungen, keinen Dialog, sie wollen einzig das Regime zum Absturz bringen.

Glauben Sie denn, Sie haben die von Ihrer Vorgehensweise überzeugt?
Ich wollte sie nicht überzeugen, ich wollte ihre Stimme hören, ich wollte ihre Meinung hören, nur das. Wir ergänzen einander, wir sind nicht ihre Gegner, wir sind nicht ihre Widersacher, wir sind ihre – entschuldigen Sie den Ausdruck – wir sind ihre Lehrer.

Es gab Äußerungen von Seiten der Regierung, dass es unter den Demonstranten auch Bewaffnete gegeben habe.
Ich glaube das nicht. Aber wenn die militärische Option der Regierung mit dieser Härte weitergeht, dann werden sich bestimmt Gruppen bilden, die sich verteidigen. Es ist eine große Herausforderung für die Menschen, auf dieser pazifistischen Linie zu beharren.

Es gibt nun enormen Druck aus dem Ausland auf Syrien. Die EU hat Sanktionen verhängt, auch die USA. Deutschland will eine UN-Resolution gegen Syrien erwirken. Ist das hilfreich für Ihre Arbeit?
Ich glaube, das ist hilfreich, weil es dem Regime zeigt, dass sein Spielraum sehr eng geworden ist; dass es eine friedliche, eine globale Lösung finden muss und dass es in seiner jetzigen Form nicht weiter bestehen kann.

Viele Syrer vertrauen offenbar aber nicht darauf, dass der Westen das Wohlergehen des syrischen Volkes im Hinterkopf hat, sondern dass man dort andere Ziele verfolgt.
Ich habe soeben gesagt, dass die Leute zum ersten Mal die Werte der Moderne in ihren Köpfen tragen und auf ihren Zungen haben. Das schafft eine allgemeine Basis zwischen Ihnen – dem Westen – und uns. Wir haben seit dem 7. Jahrhundert im Kampf gegeneinander gelegen, Europäer und die Welt des Islam. Die Ereignisse jetzt könnten eine Basis der Versöhnung darstellen.

Ein Gewinn wäre es, wenn Europa die Oppositionellen unserer Region so unterstützt, dass sie sich tatsächlich von den Werten des Religiösen, vom gesellschaftlichen und kulturellen Despotismus befreien und die Werte der Moderne adaptieren für ihre Lebensart, für die Kinder, für die Zukunft, für den Staat, für ihre persönlichen Beziehungen. Abgesehen von den politischen oder materiellen Interessen ist doch das größte Interesse des Westens, historisch zu einer Versöhnung mit der Welt des Islam zu kommen.

Sie haben also keine Angst, von ausländischen Interessen instrumentalisiert zu werden?
Nein, ich habe keine Angst. Ich habe jetzt einen sehr starken Hintergrund. Das ist die Volksbewegung.

Aber die Jugend hat vielleicht ganz andere Wünsche und Vorstellungen mit Blick in Richtung Westen und auf dessen materielle Verlockungen.
Die Jugendlichen von heute haben etwas getan, was unsere Generation nie tun konnte: die Gesellschaft zu einer Revolution zu bewegen; fast die gesamte Gesellschaft und nicht nur eine kleine Elite, eine kleine Gruppe oder Partei. Und ich meine, sie konnten das, weil sie keine vorgegebene Erfahrung hatten. Sie denken und arbeiten kreativ und versuchen, etwas Neues zu schaffen.

Sie haben die Opposition im Ausland erwähnt. Welche Rolle kann die spielen?
Sie können alles tun, uns aber nicht vom Ausland aus befreien. Das werden wir nicht akzeptieren. Sonst können sie tun, was sie wollen. Propaganda machen, Beziehungen knüpfen, Kongresse veranstalten, Minister besuchen, Länder bereisen. Nur sollen sie nicht auf die Idee kommen, dass sie uns vom Ausland aus befreien wollen oder können.

Sie sind einer der bekanntesten Oppositionellen hier in Syrien. Wo sehen Sie ihre persönliche Aufgabe im Übergangsprozess?
Die sehe ich mittendrin in der Volksbewegung. Alles was ich habe, was ich kenne, meine Erfahrung, alles wird immer im Dienste der Freiheit und der Bevölkerung in Syrien bleiben.

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