Anästhesie des Daseins

Eine kleine Phänomenologie des Fernsehens

  • Franz Schandl
  • Lesedauer: 7 Min.

Im Fernsehen wird jede Darstellung von Wirklichkeit zur Vorstellung. Realität und Fiktion geraten nicht nur aneinander, sondern durcheinander, und sie werden von den Zuschauern kaum auseinanderzuhalten sein. Ob etwas »echt« oder »wahr« oder »wirklich« ist, wie soll man das beim Televisionieren wissen? Da es sein könnte, wird es schon sein. Die Dichte der Meldungen und Nachrichten lässt uns Wahrscheinliches – aber auch Unwahrscheinliches – gleich Wahrem erscheinen: Ich hab's ja gesehen.

Keine Inszenierung wird ihrem Ereignis gerecht. Freilich gilt auch umgekehrt: Kein Ereignis kommt an seine Aufzeichnung heran. In Zeiten, wo als Ereignis nur noch das Event gilt, wird das Ereignis zu einem Produkt seiner Aufzeichnung. Schon der Sozialphilosoph Günter Anders (1902–1992) meinte: »Wenn das Ereignis in seiner Reproduktionsform sozial wichtiger wird als in seiner Originalform, dann muss das Original sich nach seiner Reproduktion richten, das Ereignis also zur bloßen Matrize ihrer Reproduktion werden.« Während jedes originäre Ereignis letztlich singulär, ein mit Handlungen, Geschehnissen, Blicken, Gesten, Düften, Schwingungen, Geräuschen, Ablenkungen, Atmosphären, Helligkeiten, Schattierungen, Nebensächlichkeiten erfülltes Kontinuum ist, ist jede Aufzeichnung unendlich multiplizierbar, ohne jedoch in Ansätzen den sinnlichen Reichtum der Situation wiedergeben zu können. Trotz aller Finessen (Vergrößerung, Verzögerung, Wiederholung, Kameraführung) ist mediale Performance immer aspektuell reduziert.

Der Universalismus der bewegten Tonbilder verändert unsere Eindrücke grundlegend, sie sind fortan primär Beeindruckungen, was meint, dass die Ausgangsorte über die Eingangsorte, die Objekte über die Subjekte bestimmen. Der Begriff der Videokratie benennt diesen Vorrang. Die Technologie hat sich unser bemächtigt, uns umstellt und gefesselt, vernetzt und formatiert, wir dienen den Apparaten, obwohl das Versprechen doch andersherum in die Welt gekommen ist und dies auch immer noch behauptet wird.

Das herkömmliche Sehen ist dezentriert, es schweift durch die Gegend, der Blick fokussiert sein eigenes Bild. Im Fernsehen hingegen ist der Blick durch die Mattscheibe bereits fokussiert. Nichts Überflüssiges soll sich meiner behelligen, ich soll konzentriert werden. Bilderfolgen nehmen mich zu sich. Wenn alles filmisch komprimiert ist, kann ich nicht schweifen. Die Sequenzen des Blicks sind vorgegeben, reduziert auf Sekunden und Sekundenbruchteile. Das Fernsehen ist kein Fenster zur Welt, sondern ein Fenster der Welt ins Zimmer. Die Welt kommt rein, aber wir kommen nicht raus. Ich kann mit dem Fernseher lediglich empfangen, aber nicht senden. Ich bin nichts als Konsument. Die Menüpläne sind groß, wenn auch einander sehr ähnlich. Man speist nicht, man wird gefüttert, man trinkt nicht, man wird abgefüllt. Kanäle funktionieren wie Zuleitungen, die geflutet werden. Es sind Einbahnen. Heute herrscht andauernd Überflutung. Die Unmenge der Reize ist jenseits unserer Aufnahmefähigkeit. Wir, die wir nicht genug bekommen, kriegen immer zu viel.

Indes, nach den anstrengenden Stunden sich vor die Kiste zu platzieren und berieseln zu lassen, das hat was. Diese Mühelosigkeit des Konsums ist geradezu komplementär: Wird der Tag schon nicht der Schöpfung gerecht, so der Abend der Erschöpfung. Das Matte und das Müde sind gute Voraussetzungen, auf denen das Fernsehen prächtig gedeihen kann. Es rundet sie ab, lässt den Tag beschaulich ausklingen. Das Fernsehen vermittelt eine falsche, aber reale Utopie der Entspannung. Man braucht sich nur fallen zu lassen. Man braucht nicht einmal mehr hinzugehen. Fernsehen präsentiert sich als Bequemlichkeit par excellence. Man sitzt oder liegt und schaut. Selbst in die Schlafzimmer der Erwachsenen halten die Apparate Einzug und beschränken die Möglichkeiten der Bettgenossen beträchtlich. Genuss kommt fortan aus der Glotze. Je mehr action, desto weniger activity. Man kann sich hingeben, ohne dass es einen hernimmt, es läuft einfach ab, ohne dass wir etwas tun. Die Organe funktionieren zwar, aber nur noch passiv, man ist auf Look by geschaltet, im Wachkoma. Der Modus hat sich geändert. Fernschauen, das ist die Anästhesie des Daseins.

Auch kritische Zeitgenossen fallen immer wieder darauf rein. Sie möchten etwas Ausgewähltes sehen, und sehen sich dann alles Unmögliche an. Ähnlich wie im Supermarkt beim Einkaufen oder im Internet beim Surfen. Die Geräte herrschen durch ihre Allgegenwart. Inzwischen ist das Medium pausenlos geworden. Das Fernsehen hat immer offen. Keine Hymne und kein Testbild verkünden mehr Ende oder Unterbrechung des Programms.

»Ich glaube nicht, dass man im Fernsehen viel sagen kann«, sagte Pierre Bourdieu (1930–2002). Das mag stimmen, doch es geht auch gar nicht darum, etwas zu sagen, sondern vor allem darum, sich zu zeigen und wahrgenommen zu werden. Der Künstler und Medientheoretiker Peter Weibel hat darauf hingewiesen: »Aber im Zeitalter der visuellen Massenmedien ereignet sich diese Dialektik nicht zwischen Subjekten auf der Ebene des Bewusstseins, sondern auf der Ebene des Blicks. Im Televisions-Zeitalter sind Herr und Knecht nicht Subjekte, sondern Objekte, die gesehen oder nicht gesehen werden. Die Dialektik entfaltet sich zwischen dem, was gezeigt und gesehen wird, und dem, was nicht gezeigt und verhüllt wird.«

Was nicht erscheint, ist nicht. »Das Fernsehen entscheidet zunehmend darüber, wer und was sozial und politisch existiert«, meint auch der große Soziologe Bourdieu. Gewichtig wird etwas, wenn es durch die televisionären Leitmedien rüberkommt, den Weg durch die Kanäle findet und auf den Schirmen erscheint. Unsere Wahrnehmung ist auf das mediale Vorkommen konditioniert. Das Bewusstsein der Fiktion kann beim Zuschauen nicht unmittelbar sein. Es ist nicht da, wenn man es braucht. Der Fernseher ist ein Gerät der Affirmation, ob man will oder nicht. Einmal eingeschaltet, schaltet er.

Um die Zuschauer im jeweiligen Kanal zu halten, ist eine ordentliche Portion Aufregung nötig. Da muss was los sein. Schaltungen und Schnitte kommen plötzlich, abrupt beenden sie eine Sequenz, sie kennen wenig Aufbau und noch weniger kennen sie einen Ausklang, bloß einen Abgang. Sie kommen so rasch wie sie gehen. Es geht nichts zu Ende, schon steht man vor einem Aus. Auch der Zwang, Erster zu sein, ist omnipräsent. Indes: Je früher etwas kommt, desto schneller muss es hergestellt sein. Sorgfalt und Prüfung verlieren aufgrund der strukturellen Zwänge jede Bedeutung. Idealtypisch hat die Fernsehnachricht schon vor dem Ereignis fertig zu sein. Und dieses soll sich dann gefälligst danach richten. Das heißt freilich auch, dass jedes wirkliche Geschehen formell wie inhaltlich möglichst auf seine optimale Reproduktion hin standardisiert wird. »Die Tagesereignisse müssen ihren Kopien zuvorkommend nachkommen.« (Günther Anders)

Beim Fernschauen kann man das Tempo nicht wählen, ist ausgeliefert, hat keine Eingriffsmöglichkeiten. Man sieht, was man zu sehen hat, in der Geschwindigkeit, die vorgegeben ist. Dieses In-die-Ferne-Schauen ist jedoch kein In-die-Weite-blicken. Der Raum, der sich öffnet, ist eine enge Kammer, ein Kanal, aus dem es strömt. Der Vorgang ist einer der Formatierung.

Analyse ist fad. Und tatsächlich, sie braucht die lange Weile, sperrt sich gegen die kurze Sequenz, doch nur diese steht zur Verfügung. »Die Entfaltung denkenden Denkens ist unaufhebbar an Zeit gebunden« (Bourdieu). Das Denken löst sich unter solchen Bedingungen in Gemeinplätzen und Phrasen auf, verkürzt sich auf Präsentieren und Registrieren. Reflexion braucht Zeit, Zeit, die sämtliche Beteiligte nicht haben. Stets leben sie aufgrund ihrer Terminisierung in bedrängten Fristen. Das Fernsehen ist wie das Huschen der Zeit in einem eilig verlaufenden Leben. Unsere Lebenszeit ist einer sich beschleunigenden Invasion unterworfen, die Disposition über sie wird immer geringer statt größer. Das Fernsehen ist eine zentrale Institution dieses Zeitraubs.

Die Beschleunigung der Bilder korrespondiert mit der Beschleunigung des Lebens. Charakteristisch ist das Verschwinden der Betulichkeit. Die Geschwindigkeit der optischen Abläufe, ja Überfälle ist atemberaubend. Man kommt nicht mit, aber man wird mitgenommen. Das Tempo, in dem der optische Eindruck über uns kommt, lässt uns immer nur reflexartig und nie reflektiert auf das Tonbild reagieren. Wir können uns gar nicht darauf einstellen, weil wir von einer Beeindruckung zur nächsten gerissen werden. Die Rasanz ist jenseits unserer kognitiven Kapazitäten.

Der Zuseher ist via Schaltung ein Vorbeischauer (noch deutlicher ist dieser Umstand im Internet ausgebildet), es ist ein Flitzen und Peepen. Zappen ist freilich ein Aktivismus, der nichts aktiviert, ein verächtliches Treiben, verbunden mit der Hoffnung, doch irgendwo hängen zu bleiben und in sich ruhen zu können. Indes, man darf nicht ruhen, spätestens der nächste Werbeblock lässt einen weiterschalten. Das Zappen ist ein Tun der Verzweifelnden, die nicht mehr wissen, wie ihnen geschieht. So zucken sie ziellos durch die Programme, entscheidungslos und unentschieden, aber unter dem steten Druck, sich entscheiden zu müssen, weil sie grenzenlose Freiheiten haben, sich entscheiden zu können. Unendliche Weiten der Belanglosigkeit tun sich auf. Die Konsumenten erfüllen ihre Pflicht, sie sind hemmungslos wie ratlos, vor allem aber hilflos.

Immer mehr gilt: Fernsehen macht nervös. Zappen ist wie Zappeln. Diese Unruhe ist wohl auch ein Ausdruck dessen, dass sich so gar nichts mehr tut, aber unbedingt etwas geschehen sollte...

Franz Schandl, geb. 1960, Historiker und Publizist, ist Herausgeber der Zeitschrift »Streifzüge«. Er lebt in Wien.

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