PLATTENBAU

  • Sebastian Blottner
  • Lesedauer: 3 Min.

Das ist doch mal was. Zwei komplett tätowierte Typen, Schiebermütze, Latzhose, Baumwollhemd, setzen sich als überaus passende Staffage in eine museumstaugliche Altberliner Schankwirtschaft, vor ihnen Bier- und Schnapsgläser: Fotoshooting für Haudegen.

Hier meldet sich die »Unterschicht« zu Wort. Vielleicht in einer altbacken-romantisierenden Variante, aber seien wir ehrlich, was nicht zum Klischee überzeichnet wird, funktioniert auf einer Bühne selten besonders gut. Hagen Stoll und Sven Gillert, zwei nicht ganz unbeleckte Jugendfreunde aus Berlin Marzahn, haben mit ihrem Debüt-Doppelalbum »Schlicht & Ergreifend« einen Hit gelandet.

Als Gossenpoesie wollen sie ihren simplen Deutschrock verstanden wissen. Darin pflegen sie mit heiserer Stimme und raubeiniger Herzlichkeit das Image des grundehrlichen, auf sich gestellten kleinen Mannes, der sich tagtäglich in der Welt behaupten muss. Permanent wird einem Sturm getrotzt, seinen Mann gestanden, ein Kumpel rausgeboxt und nicht aufgegeben. Alte Zeiten werden beschworen, in denen »ein Wort noch gezählt hat« und die neuen verflucht, in denen die Moral zu Boden getreten werde. Versetzt wird das mit einer Menge Herzschmerz. Dann schälen die beiden Haudegen gekonnt den weichen Kern unter ihren gemusterten Häuten hervor und die Schlägervisagen wirken plötzlich wie knuddelige Bärchen. Beinahe glaubt man ihnen, dass sie beim Anblick einer Frau immer nur an In-den-Arm-Nehmen denken können, nicht an dreckige Tittenwitze.

Anstand, Respekt, Fleiß – das sind Werte, die Haudegen wieder salonfähig machen wollen. Wie glaubwürdig das bei ihrer vorangegangenen Karriere als Schock-Rapper, Hooligans und Türsteher ist, mag jeder selbst beurteilen. Mit ihrer Marzahner Plattenbau-Biografie dürfen sie sich aber schon als die Bevollmächtigten des kleinen Mannes hinstellen. Für ihn wollen sie das Wort ergreifen, weil seine Stimme in dieser ungerechten Welt »zu oft überhört wird« – aber halt, hat Popmusik das nicht schon immer getan? Und gab es nicht jederzeit reichlich davon?

Natürlich. Viel spannender ist, warum derartige Mutmach- und Durchhaltelyrik für Unterprivilegierte wieder so interessant ist. Stellt man sich vor, wie Hunderte diese Lieder mitgrölen – und genau das passiert auf den ausverkauften Konzerte von Haudegen – dann denkt man fast schon an Revolution. »Große Bühnen und doch nichts zu sagen« heißt es in dem Song »Deutschland ein Wintermärchen«, diejenigen anklagend, die uns da so regieren. Wenn sich selbst die Proleten nichts mehr vormachen lassen, stehen ungemütliche Zeiten ins Haus.

Vielleicht sollte man sämtlichen Politikern, die so gern von sich behaupten, sie wüssten, was die Menschen ›draußen im Lande‹ so umtreibt, ein Haudegen-Album spendieren. Manch schiefe Bilder und mitunter verbesserungswürdiges Deutsch ändern nichts daran, dass Haudegen den Nerv der Zeit getroffen haben – viel mehr kann man im Popgeschäft nicht erreichen.

Haudegen: Schlicht & Ergreifend (Warner)
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