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Schluss mit den Marathon-Schichten
Auf Nachtarbeit folgt Freizeit: Modell-Tarifvertrag zu Bereitschaftsdiensten an Freiburger Klinik
Am Uniklinikum in Freiburg im Breisgau (Baden-Württemberg) wurde jetzt bundesweit erstmals ein Modell-Tarifvertrag zwischen einer Klinik und der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di ausgehandelt, der das Verhältnis von Arbeitszeit und Bereitschaftsdiensten regelt und damit das EuGH-Urteil umsetzt. Er gilt für 50 Beschäftigte, die in zentralen OP-Bereichen des Klinikums arbeiten.
OP-Krankenschwester Regina Dries kann aufatmen. Marathondienste von bis zu 36 Stunden am Stück gehören von nun an der Vergangenheit an. Denn der Tarifvertrag, der rückwirkend zum 1. Januar 2002 in Kraft tritt, schreibt vor, dass die Angestellten zwischen zwei Schichten mindestens zehn Stunden Ruhezeit einlegen müssen. Nach einem nächtlichen Bereitschaftsdienst kann die 30-jährige OP-Schwester künftig nach Hause gehen. Ihr Nachtdienst wird ihr in Freizeit vergütet. Früher war es üblich, dass sie nach dem Nachtdienst eine weitere normale Schicht anhängen musste. »In der OP arbeiten wir mit zwei Tagesschichten und einem nächtlichen Bereitschaftsdienst. Wenn nachts Not-Operationen angefallen sind und die OP-Schwestern im Dauereinsatz waren, konnten sie morgens kaum noch arbeiten«, erklärt Pflegedirektorin Beate Buchstor. Da sei es auch schon mal vorgekommen, dass man jemanden nach Hause geschickt habe. Folge: Eine fest eingeplante Arbeitskraft fehlte in der Tagesschicht - zu Lasten des Stammpersonals, das deren Arbeit übernehmen musste.
Mit diesem Missstand zu Lasten des Personals ist jetzt Schluss. Denn der Freiburger Tarifvertrag sieht zum einen eine stufenweise Reduzierung der Bereitschaftsdienste für die Angestellten in den nächsten zwei Jahren vor - von monatlich maximal sechs auf nur noch maximal vier Dienste pro Monat. Zum anderen stellt er sicher, dass insgesamt mehr OP-Personal vorhanden ist. Denn die Klinik hat sich verpflichtet, neue Personalstellen im OP-Bereich zu schaffen. Das Geld hierfür stammt von den Pflegekräften selbst. Denn sie bekommen den Bereitschaftsdienst künftig schlechter bezahlt - und schaffen damit finanziellen Spielraum für die Klinik.
In Freiburg werden nun 4,5 neue Planstellen im OP-Pflegebereich ausgeschrieben. 300 Euro weniger pro Monat verdiene sie infolge der Neuregelung, berichtet OP-Schwester Regina Dries. Dafür habe sie jetzt mehr Freizeit und gehe motivierter zur Arbeit. »Anders war es eben nicht möglich«, sagt sie. »Für den Arbeitgeber ist die Lösung kostenneutral und deshalb akzeptabel«, sagt Pflegedirektorin Buchstor, die über mehr Planungssicherheit glücklich ist.
Gewerkschaft und Personalrat sehen in dem neuen Tarifvertrag einen ersten Schritt zur Umsetzung des EuGH-Urteils, dem weitere folgen müssten. »Auf Bundesebene sind die Tarifgespräche zur Umsetzung des EuGH-Urteils bisher am Widerstand der Arbeitgeber gescheitert, die keine neuen Stellen für die betroffenen Stationen im Krankenhaus schaffen wollen«, erklärt Freiburgs verdi-Geschäftsführer Reiner Geis. Die Arbeitgeber bestreiten nämlich, dass das EuGH-Urteil, dem ein Fall aus Spanien zu Grunde liegt, in Deutschland rechtswirksam ist. Mehrere Arbeitsgerichte haben dem Gerichtshof bereits Fälle vorgelegt, um die Geltung in Deutschland prüfen zu lassen. Eine Entscheidung steht allerdings noch aus. »Wir sind sehr wohl der Meinung, dass das Urteil auch in Deutschland Rechtsbindung hat, und zwar für alle Klinikbereiche, nicht nur für die Ärzte«, erklärte der Personalratsvorsitzende Ingo Busch.
Doch gerade auch für die 1000 Ärzte des Freiburger Uniklinikums, die zum großen Teil Bereitschaftsdienste schieben, müsse eine tariflich geregelte Arbeitszeitregelung her. »Da werden nicht einmal Überstunden dokumentiert, geschweige denn bezahlt«, berichtet Busch. Es sei eine Schande, dass man dies nun auf dem Rechtsweg erstreiten müsse. »Jedes Krankenhaus wäre gut beraten, unverzüglich mit der Planung alternativer Arbeitszeitmodelle zu beginnen und entsprechend dem Freiburger Modell Vereinbarungen mit ver.di abzuschließen, auch um gesundheits- und motivationsfördernde Arbeitsbedingungen zu schaffen«, so Busch.
Um dies durchzusetzen, sei jedoch Beharrlichkeit vonnöten. Auch die Freiburger Klinikleitung habe sich nur deshalb auf die Regelung eingelassen, weil speziell im OP-Pflegebereich ein Personalnotstand existiere. »Weil die Uniklinik sicher stellen muss, dass alle notwendigen Operationen durchgeführt werden können und dafür gutes und konzentriertes Personal bereit steht, war sie bereit, auf die Belegschaft zuzugehen«, berichtet Busch. Andernfalls würden die OP-Pflegekräfte auch in Freiburg noch immer auf ihren Marathon-Diensten sitzen.
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