»SPD geht ohne Mehrheitsperspektive unter«

Politikwissenschaftler Franz Walter über die Krise der sozialdemokratischen Parteien in Europa

  • Lesedauer: 4 Min.
Professor Franz Walter ist Politikwissenschaftler und Parteienforscher. Er lehrt an der Universität Göttingen. Seit 1972 ist er Mitglied der SPD. Demnächst erscheint das von ihm herausgegebene Buch »Genossen in der Krise? Europas Sozialdemokratie auf dem Prüfstand«. Aert van Riel sprach mit ihm über neue Populisten und Ursachen für die Krise der europäischen Sozialdemokraten.

ND: Diese Woche erscheint das von Ihnen herausgegebene Buch »Genossen in der Krise? Europas Sozialdemokratie auf dem Prüfstand«. Warum das Fragezeichen?
Walter: Wenn man verschiedene Länder vergleicht, sollte man ein Stückchen die Zukunft offen halten, bevor man ein apodiktisches Ausrufezeichen setzt. Und wenn es dann bald für die SPD um einen Prozentpunkt nach oben gehen sollte, schreibt der Rezensent, die Wissenschaftler wissen es auch nicht besser.

Aber die meisten europäischen sozialdemokratischen Parteien befinden sich definitiv in der Krise?
Ich würde sogar noch weiter gehen. Krise ist so etwas wie ein zwischenzeitliches Unwohlsein. Ich finde den Begriff zu schwach. Ich glaube, es ist die Implosion eines alten Modells, das mehr als 120 Jahre gut funktioniert und Europas Gesellschaften geformt hat.

Sie sprechen als Ursache auch vom Verschwinden alter sozialdemokratischer Milieus in der industriellen Arbeiterklasse. Muss sich eine neue sozialdemokratische oder linke Politik nicht an die neuen prekär Beschäftigten im Dienstleistungsbereich wenden?
Milieus haben sich niemals automatisch gebildet. Sie mussten gemacht werden. Dazu gehörten Kulturorganisationen, Rituale und Deutungsmuster. Diejenigen, die dazu intellektuell in der Lage waren, sind nicht mehr in den Quartieren. Sie sind aufgestiegen. Eine Führungsschicht, die jedes Milieu braucht, fehlt nun. In den letzten 20 Jahren ist auch deutlich geworden, dass sich die Einzelnen in den Quartieren zurückziehen. Der Organisationsgrad ist niedrig. Den Sozialdemokraten ist diese Lebensweise fremd, sie sind davon entkoppelt und arriviert, vom Habitus, von der Sprache, von der Bildung und von dem, was sie als Lebensqualität definieren.

In Deutschland sind SPD-Wähler vor allem zu Grünen, Linkspartei oder ins Lager der Nichtwähler abgewandert. In anderen europäischen Ländern gibt es dagegen Tendenzen, zu Rechtspopulisten zu gehen. Wie ist dies zu erklären?
In der Sarrazin-Debatte scheint auf, was möglich ist. Vorher war die SPD bei 30 Prozent, im Laufe der Debatte ist sie wieder auf 22 bis 23 Prozent gefallen. Es gibt derzeit in Deutschland aber keine populistische Partei. Ich würde auch nicht von rechtspopulistischen Parteien sprechen, sondern die neuen erfolgreichen Populisten bemühen sich, nicht mehr so aufzutreten wie die klassischen Rechtspopulisten, etwa Jörg Haiders FPÖ in Österreich, sondern in der gesellschaftlichen Mitte zu werben. Das ist gefährlicher. Ein Teil des Medienmainstreams hat wegen der historischen Erfahrungen Deutschlands eine höhere Tabugrenze als das in anderen Ländern der Fall ist. Es gibt aber vier, fünf Männer in Deutschland, die in den letzten Jahren im Hader mit ihrer Partei aus der Politik ausgeschieden sind. Wenn diese eine neue Partei gründen würden und dann sagen »wir reden Klartext«, wären sie schnell bei 10 bis 15 Prozent. Die SPD würde dann vermutlich auf unter 20 Prozent fallen.

Die norwegischen Sozialdemokraten haben sich erholt, weil sie mit der Linkspartei koalieren und wieder den Kontakt zu den Gewerkschaften gesucht haben. Ist dies auch ein Modell für die SPD?
Möglicherweise. Ein konstitutiver Fehler in der Schröder-Zeit war die Abkopplung von den Gewerkschaften. Diese haben ein Organisationsvermögen, das die meisten Gruppen nicht haben. Und wo man den Kontakt zu ihnen nicht so sehr hat abschwächen lassen, da wurde es auch in der Regierung wieder leichter. Wenn man den Sozialstaat verändern will, muss man die Gewerkschaften korporatistisch einbeziehen. Eine Chance der Sozialdemokratie, Menschen zu mobilisieren, ist noch immer die soziale Frage. Da ist aber in den letzten zehn Jahren viel kaputt gemacht worden. Zudem hat eine Partei nur Chancen eine Wahl zu gewinnen, wenn sie zusammen mit anderen eine Mehrheitsperspektive hat. Hat sie das nicht, wie 1987 Johannes Rau, 1994 Rudolf Scharping und 2009 Müntefering und Steinmeier, weil diese nicht mit den Grünen bzw. mit der LINKEN zusammengehen wollten, geht sie unter.

Kann die SPD durch die von Parteichef Gabriel und Generalsekretärin Nahles angestrebte Parteireform erneuert werden? Diese wird wegen des Vorschlages, Nichtmitglieder bei Vorwahlen zu beteiligen, kritisiert. Verprellt man damit nicht langjährige Parteimitglieder?
Da bin ich nicht traditionalistisch. Diese langjährigen Mitglieder, das kann nicht reichen. Das hat etwas von dem Prinzip alter Kaderparteien. Man muss nur lange genug Kaderanwärter sein, dann kommt man irgendwann nach oben. Das finde ich bei einer offenen Gesellschaft verrückt. Einige Mitglieder sagen zwar, ich trage die Partei, da können andere doch nicht einfach mitstimmen. Für mich steht aber im Vordergrund, durch Partizipation mehr Bewegung in die Partei reinzubringen.

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