Dribbling in der Telefonzelle

Am Freitag startet die Fußball-Bundesliga: kleine Mannschaftsbildung mit Goethe, Schiller, Wagenknecht, Beckenbauer

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.
Am Freitag beginnt die Bundesliga-Saison. Für viele ist das ein wenig so, als beginne das Land endlich wieder zu leben.

Regierung und Parlament sind im Urlaub, dies fällt jetzt nicht weiter ins Gewicht. Wie beider Anwesenheit. Sorgen und Hoffnungen speziell im Osten sind auf anderes gerichtet: Wenn Dresden Leverkusen aus dem Pokal kippt, werden es doch wohl auch Rostock oder Cottbus (vielleicht) wieder ins Oberhaus schaffen. Es gibt doch diese Kraft der Schwachen. Es gibt doch, nicht ganz vergessen, dies bohrende Von-unten-Auf. Es gibt doch diesen unstillbaren Instinkt der Kollektive, einem Attraktionspol zuzustreben, obwohl dies aller Logik spottet, allen realen Verhältnissen widerspricht.

Die Hoffnung erfährt in der Realität derart viele Anpfiffe, dieser eine Anpfiff aber, heute abend, ist eine alljährliche Schöpfungsgeschichte. Und es beginnt wieder jener schöne Einbruch von unbedenklicher Hingabe trotz genauer Lagekenntnis. Denn wir wissen doch alles: Kapitalistischer Profitwucher ist der Kern auch dieses Geschäfts Fußball, eines eiskalten Menschen- und Warenmarktes. Wer also einer Ostmannschaft Aufstiege wünscht, wünscht ihr Zugang zum Teufelskreis.

Und doch wird dies jetzt jedes Wochenende mit Leidenschaft beiseite geschoben; immer wieder erweist sich das Hochgefühl des Fans stärker als jede Enttäuschung über die Gier, die auch in den Fußball und etwa dessen Fernsehübertragungs-Geschichte sickerte. Im Fan siegt eine Wildform ekstatischer Genugtuung über jenes gesamte Systemwissen, das die Vernunft aufhäuft. Die urschreiartigen Gesänge auf den Rängen, ungeeignet für Übertragungen im Kulturfernsehen, sind dennoch auch Kultur: Es sind Spontangebete einer aufbewahrten Frühgeschichte der Hordenlust. Beim Fußball siegt die untilgbare Lust über jede bessere Einsicht; man darf daran schon studieren, dass der Mensch ein sehr gespaltenes Wesen ist, geistig, mental; er ist komponiert aus unvereinbaren Bewusstseinsströmen. Fußball mahnt daher die Erzieher und Aufklärer aller Art, ihr Werk mit gemäßigter Hoffnung zu betreiben. Und der Fußball selbst? Es ist Wehmutszeit. Lang vorbei jene Ära, die den Libero erschuf, diese Gleichnisgestalt für zauberische Freiheiten auf dem Spielfeld, für Raum- und Zeitspiel zwischen Präzision und perlender Improvisation.

Der Ball wurde einst nicht nur geschossen, sondern auch getragen. Die Athletik war noch kein Rambo. Noch der große Individualist ist doch heute hauptberuflich Wachbeamter im Hochsicherheitstrakt Mittelfeld. Souveränität wurde zu einem Effekt aus der Investition von Energie in sehr flache Prozesse. Die Kreise zogen sich zu. Beckenbauer müsste sich, beim Dribbelversuch auf dem Spielfeld, vorkommen wie in einer stacheldrahtbewehrten, von gegnerischen Spielern vollbesetzten Telefonzelle. Auch die deutsche Bundesliga ist nur eines der zahlreichen europäischen Turniere abgezocktester Rationalmannschaften.

Natürlich gibt es immer wieder Ausbrüche aus der Absicherungsstarre; selbst die routinierteste Elf fühlt schließlich mit dem skizzierten erwartungsvollen Publikum. Und was dies (oft vergeblich) erwartet, ist die geschmeidige Einheit zwischen Defensive und Offensive, ist der überraschende, virtuose, instinktiv wirkende Wechsel zwischen beidem.

Man muss über so etwas in der Tonart der Anmahnung reden, weil es mit dem Genius Barcelona eine Mannschaft gibt, die das utopisch Gewordene – praktiziert. Ein derart hoher Maßstab darf herangezogen werden – auch wenn da jeder, der weit entfernt von »Barca« so etwas Ähnliches wie Fußball versucht, klagend sein leeres Portemonnaie zieht. Aber: Wir rufen auch Goethe an, obwohl die Welt von kleinerem Geist bestimmt ist.

Träumen wir also, ungeachtet der Realitäten auch dieser Saison. Von weniger physischem Druck etwa, so dass ein Spieler den Ball stoppen und sich umsehen kann, wo ein Stürmer frei steht. Ein Traum auch dies: Annehmen und Passen des Balls, dieses »One Touch«, wird nicht länger in einen blitzschnell zu absolvierenden Vorgang gepresst. Noch ein Traum: Der Druck, der sich gegen eine Mannschaft richtet, ist ihr kein Grund, auf Genauigkeit zu verzichten. Weiterer Traum: Verteidigung ist, auf breiter Linie, Aufbau einer Belagerungslinie, die Meter um Meter nach vorn rückt, mit einem Ball-Spiel langer Sequenzen – bis zur entscheidenden Lücke vorm Tor.

Lauter Träume. Haben nichts mit dem derzeit kickenden Bodenpersonal zu tun. Aber da Goethe angerufen wurde, geht auch Schiller: »Oh, der Einfall war kindisch, aber göttlich schön!« Größter Traum-Einfall: ein Team, »das überhaupt nur noch Pässe und Torschüsse kennt und auch im eigenen Strafraum nur Pässe spielt, das nur noch den Gegner überrascht, nie sich selbst; der Gegensatz von Erfolg und Schönheit: beseitigt«.

So Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumprecht (über den FC Barcelona). Er spricht von einer Begeisterung für Teamsportarten, die sich auch bei eingefleischten Fans nicht bloß auf Siege der eigenen Elf reduzieren lässt, sondern »eine ästhetische Erfahrung im vollen philosophischen Sinne« meint. Das schöne Spiel als Mittel zum Zwecke des Sieges? Nein – möge der Zweck, zu gewinnen, ein schönes Spiel erschaffen!

Der Markt als Arena der Kultur; die Ökonomie nicht nur als bloßer Ausdruck des millionenschweren Pragmatismus, sondern als Bühne, auf der die Kombination von Schnelligkeit und Technik etwas Unerklärbares hervorruft – das allein mit Ergebnis-Mathematik nicht erfasst werden kann.

Georg Seeßlen und Markus Metz schrieben ein tolles, dickes Suhrkamp-Buch, »Die Blödmaschine – Die Fabrikation der Stupidität«. Darin wird vermutet, der Sport sei die »ökonomisch und politisch bedeutendste Blödmaschine unserer Gesellschaft«, da ist in Richtung Fan aufschäumend die Rede von der »paradoxen Erzeugung terroristischer Massen für Bürgerkrieg und Krieg«. Das nennt man eine Breitseite, so sagte es auch Elfriede Jelinek im »Sportstück«.

Nicht immer hat man Lust auf solche Wahrheiten. Mein Gott, immer dieser zwanghaft kritische Geist! Es ist ein bisschen so wie mit einem »Zeit«-Interview, das Sahra Wagenknecht gab: Man sah sie auf dem Foto erstmals mit offenem Haar, und sie sagte Sätze wie den: »Ich glaube nicht, dass ich mich in einen Mann verlieben könnte, den ich als unterlegen empfinde.« Es hat seine ganz besondere Anmut, wenn jemand quasi eine Kampfpause macht. Fußball ist Kampf – und zugleich ist dieser Sport, drinnen im Stadion, Pause von den Kämpfen draußen. Wochenende ist ein kurzes Weltenende. Ein verdientes, wie man so schön sagt.

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