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»Mann, Alter, warum hast du ....?«

Chris Gueffroy, Reinhold Huhn, Wolfgang Glöde und all die anderen Toten

»Was macht man mit wilden Pferden, die sich nicht einfangen lassen?« – »Die erschießt man.« Wieso sollte man sie erschießen? Kann man wilden Pferden nicht freien Lauf lassen? Sollen sie doch über Weiden und Wiesen galoppieren, wie es ihnen beliebt. Diese Freiheit sei ihnen gegönnt.
Ulrich Steinhauer, geboren am 13. März 1956, aus Ribnitz-Damgarten, Zimmermann, erschossen am 4. November 1980 bei Schönewalde
Ulrich Steinhauer, geboren am 13. März 1956, aus Ribnitz-Damgarten, Zimmermann, erschossen am 4. November 1980 bei Schönewalde

Eingangs zitierter Dialog ist protokolliert. Während des Verhörs in der Polizeizentrale in der Berliner Keibelstraße war das Tonbandgerät eingeschaltet. Das zufriedene Nicken des Offiziers nach der unerwarteten, vielleicht auch erwarteten Antwort ist auf dem Magnetophon nicht gespeichert. Schweigendes Einverständnis lässt sich nicht abhören. Das es so geschehen ist, kann nur Karin Gueffroy bezeugen. Die noch heute erschrocken ist über ihre Antwort.


Man hat ihr den Sohn genommen. Sie ist noch immer wie benommen. Der Mann, der ihr die schlimmste Nachricht, die eine Mutter erfahren kann, überbrachte, sagte, der Sohn sei bei einer Grenzprovokation umgekommen. In den späten Abendstunden des 5. Februar 1989 hatte Chris Gueffroy mit seinem Freund Christian Gaudian einen Fluchtversuch am Brietzener Kanal unternommen, an der Nahtstelle zwischen Treptow und Neukölln, . Chris Gueffroy starb an Ort und Stelle. Ein Schuss hatte ihn direkt ins Herz getroffen.

»Ich habe nichts geahnt, sonst hätte ich Chris angebunden«, beteuert Karin Gueffroy. Hätte sie ihren Sohn anbinden können? Sagt sie doch selbst, er sei temperamentvoll, ungeduldig und fordernd gewesen. Von Kindesbeinen an. Als Zwölfjähriger offenbarte er der Mutter, er wolle Amerika mit eigenen Augen sehen. Er lässt den Einwand nicht gelten: »Ich glaub nicht, dass du das kannst, Chris.« Wenn er erst erwachsen sei ...

Bei der Vorstellung des Films von Klaus Salge über das »kurze Leben des Chris Gueffroy« in der Bundesstiftung Aufarbeitung erinnert sich Karin Gueffroy, ihr Sohn habe ihr später vorgeworfen: »Wie kannst du hier leben? Ich muss raus.« Sie hat diese Worte nicht auf die Goldwaage gelegt. Für Karin Gueffroy war die DDR Heimat. Sie hatte hier ihre Wohnung, ihre Arbeit. »Chris wollte mehr, er wollte dieses Leben nicht.«

Dabei hatte er in der DDR eine behütete Kindheit. Er gehörte zu den Turnern beim SC Dynamo, »Mielkes Sportverein«, hieß es nach der Wende. Karin Gueffroy nahm ihn von der Sportschule, denn: »Ehe du auf dem Treppchen stehst, brechen sie dir das Rückgrat.« Ihr Chris, sagt sie, passte sich nie ein, ordnete sich nie unter.

Im Film von Salge erinnern sich die Freunde, Sportkameraden und Kellnerkollegen. Eigentlich hatte Chris Gueffroy, nachdem aus ihm nun kein Spitzenathlet werden sollte, Pilot werden wollen. Aber das ging nur über die Armee. Dies wollte die Mutter nicht, die eine zeitlang als Zivilangestellte bei der NVA gearbeitet hatte. Später mochte auch der Sohn nicht mehr. Chris Gueffroy wollte keine Uniform überstreifen, nicht den Wehrdienst leisten. Im Mai 1989 hätte Chris Gueffroy bei der Truppe antreten müssen.


Er war der letzte »Republikflüchtling«, der an der Berliner Mauer erschossen wurde. Bereits am 24. August 1961, war – von Schüssen getroffen – der 21-jährige Maurer Günter Litfin in der Spree ertrunken. Zwei Tage zuvor hatte Ida Siekmann den Sprung aus einem Fenster ihrer Wohnung in der Bernauer Straße nicht überlebt. Als letztes Opfer der Mauer gilt Winfried Freudenberg, der sich am 8. März 1989 mit einem Gasballon in den Westen treiben lassen wollte; der 32-jährige Ingenieur stürzte über Zehlendorf ab.

Was treibt Menschen, ein tödliches Risiko einzugehen? »Die Grenztruppen der DDR waren ein Exekutivorgan. Die Angehörigen trugen Schusswaffen und waren legitimiert, diese auch einzusetzen: für den Schutz der eigenen Person im Falle eines Angriffs und zum Stellen von Grenzverletzern, die sich einer Festnahme durch Flucht entziehen wollten. Dabei ging der Gesetzgeber davon aus, dass der Gebrauch der Schusswaffe die Ultima Ratio ist«, betont Oberstleutnant a. D. Horst Liebig, der über 30 Jahre an der Grenze tätig war.


Unter den 136 Todesopfern an der Berliner Mauer, von denen 97 erschossen wurden, waren 98 DDR-Flüchtlinge und 30 Menschen, die keine Fluchtabsichten hegten. Diese Zahlen ermittelte ein gemeinsames Projekt des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam und der Stiftung Berliner Mauer. Auch der Tod von Kindern war zu beklagen, darunter fünf Kreuzberger, die beim Spielen am Gröbenufer ins Grenzgewässer fielen und nicht gerettet werden konnten. Der 13-jährige Wolfgang Glöde starb in der Laubenkolonie »Sorgenfrei«. Ein Soldat hatte dem neugierigen Jungen seine Waffe gezeigt; es löste sich ein Schuss. Unglücksfälle aus Leichtsinn, Sorglosigkeit. Sie gelten alle als Opfer des »unmenschlichen SED-Grenzregimes«. Selbst das Baby, das in einer Kiste im Fluchtfahrzeug erstickte. Eine Mutter im Schmerz fragt man nicht, warum sie das tat.

An der Berliner Mauer wurden acht DDR-Grenzsoldaten getötet. Am 18. Juni 1962 starb Reinhold Huhn, erschossen vom Fluchthelfer Rudolf Müller, der nach seiner heimtückischen Tat vom Chefredakteur der Bild-Zeitung im Springer-Haus in Westberlin empfangen wurde. Der letzte NVA-Angehörige, der im Dienst an der Mauer starb, war Ulrich Steinhauer, von einem »Kameraden« hinterrücks niedergestreckt, auch mitten ins Herz getroffen. Im Prozess gegen den Mörder Emil Bunge in den 80er Jahren urteilten Westberliner Richter: Im Widerstreit zwischen Freiheit und Leben habe das Leben Vorrang; das selbstsüchtige Verhalten von B. rücke die Tat »sehr nahe« an einen Mord.


Die Urteile in den Prozessen, die den Tod von DDR-Grenzsoldaten verhandelten, fielen milde aus. Beklagt werden heute indes nur die Urteilssprüche, die in den sogenannten Mauerschützen- und Politbüroprozessen ergangen sind. Akzeptiert wird nicht die Erklärung damals Verantwortlicher, jedes Todesopfer zu bedauern. »Gemessen an dem vorsätzlich begangenen schweren Unrecht und der Todesfolge für die Opfer waren die verhängten Strafen überaus maßvoll«, meint Clemens Vollnhals vom Hannah-Arendt-Instititut. Dieser Ansicht ist auch Karin Gueffroy, die mit Freisprüchen und Bewährung im Falle ihres Sohnes nicht zufrieden ist. Sie hatte den ersten Prozess angestrebt. Denn ihrem toten Sohn hatte sie geschworen: »Ich bringe die vor Gericht.« Maria Nooke von der Gedenkstätte Bernauer Straße sagt, dass Recht nicht immer Gerechtigkeit bedeutet.

Chris Gueffroy wollte »das Leben ausleben«, erinnert sich ein Freund. Die DDR war ihm zu eng, bot ihm nicht, was er sich wünschte, erhoffte, ersehnte. Gleichwohl er es sich wohl sein lassen konnte. Als Kellner in gastronomischen Einrichtungen, in denen Westtouristen und alliierte Soldaten verkehrten, verdiente er mehr als ein Arzt in der DDR. »Wir haben in wenigen Tagen Hunderte Mark verdient und auch verpulvert«, erinnert sich ein Kollege. Karin Gueffroy berichtet, ihr Sohn habe sie eines Tages aus Warnemünde angerufen: »Ich bin im Neptun-Hotel, habe den Zimmerservice angerufen, Kiwis und andere Südfrüchte bestellt.« Geld spielt keine Rolle, wenn man es hat. »Klar, wenn das so weitergeht, hebt man komplett ab«, resümiert ein Kumpel im Film.

Ist Chris Gueffroy »abgehoben«, als er über die Mauer nach »drüben« wollte? Sein ehemaliger Sportsfreund bedauert, dass er ihm nicht mehr hat sagen können: »Mann, Scheiße Alter, warum hast du diesen Weg gewählt?«

Das kurze Leben des Chris Gueffroy. Film von Klaus Salge, 7,50 €.

Die Todesopfer an der Berliner Mauer 1961-1989. Ch. Links Verlag, Berlin. 523 S., br., 24,90 €.

Hans Bauer (Hg.): Grenzdienst war Friedensdienst. Spotless, Berlin. 191 S., br., 9,95 €.

Chris Gueffroy, geboren am 21. Juni 1968, aus Berlin, Beruf:
Kellner, erschossen am 5. Februar 1989 nahe der Kleingartenkolonie
»Harmonie«
Chris Gueffroy, geboren am 21. Juni 1968, aus Berlin, Beruf: Kellner, erschossen am 5. Februar 1989 nahe der Kleingartenkolonie »Harmonie«
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