Naoto Kan dreht in der Schlussrunde auf

Japans Premier zeigt sich kurz vor seinem angekündigten Rücktritt tatendurstig

  • Daniel Kestenholz, Bangkok
  • Lesedauer: 3 Min.
Am vergangenen Freitag erschütterte ein Beben der Stärke 6,8 erneut die japanische Nordostküste. Die Einsatzkräfte wurden vorübergehend vom havarierten Atomkraftwerk Fukushima abgezogen, doch eine Tsunami-Warnung wurde nach 30 Minuten wieder aufgehoben. Indessen dauert die Unruhe in Japans Politik an.

Je näher das Ende seiner Amtszeit rückt, umso angriffslustiger zeigt sich Japans Premier Naoto Kan. Schon im September dürfte Nippon den sechsten Regierungschef binnen fünf Jahren erhalten.

Doch noch hat Kan den Ring nicht verlassen, vielmehr scheint er in der Schlussrunde über sich hinaus zu wachsen. Nachdem er sich für die Förderung erneuerbarer Energien stark gemacht hat, gilt sein letzter Kampf Japans stufenweisem Rückzug aus der Nuklearenergie – ein vor den Katastrophen des 11. März noch undenkbares Unterfangen.

Kans Wandel begann im Juni, als sich deutlich abzeichnete, dass er zum nächsten Opfer des japanischen Syndroms – des schnellen Verbrauchs von Regierungschefs – wird. Kan offerierte ein vages Rücktrittsangebot (erst müssten die wesentlichen Maßnahmen zum Wiederaufbau in die Wege geleitet sein) und kaufte sich damit Zeit. Und als wäre er befreit vom mühseligen Tagesgeschäft der Regierungsführung, gab er sich plötzlich reformfreudig, verkündete politische Ziele, ohne sich mit seiner Demokratischen Partei beraten zu haben, wetterte gegen die Atomindustrie und jene, die sie zu schützen versuchen.

Der 65-Jährige, der sein Amt erst im Juni 2010 übernahm, hat eben nichts mehr zu verlieren, also nimmt er es auch mit mächtigen Lobbys und Wirtschaftsinteressen auf, die bisher das Sagen in Japans Energiepolitik hatten. Dabei sieht sich Kan im Auftrag einer Bevölkerung handeln, von der 70 Prozent den phasenweisen Ausstieg aus der Atomenergie wünschen, wie eine Umfrage großer japanischer Zeitungen ergab.

»Einem Regierungschef wird gewöhnlich vorgehalten, er klammere sich so lange wie möglich an die Macht«, sagte Premiersberater Hiroshi Tasaka. Kan aber wirke wie das Gegenteil. »Weil er überhaupt nicht an der Macht hängt, kann er sagen, was er will, und auf seine Worte Taten folgen lassen.«

Insofern ähnelt Kan inzwischen Junichiro Koizumi, der zwischen 2001 und 2006 regierte und als einziger Premier in Japans jüngerer Geschichte eine volle Amtszeit absolvierte. Der charismatische Koizumi scherte sich wenig um Etikette und Pflichtenheft, Protokoll und Prozeduren waren ihm egal, was ihm erlaubte, Kurskorrekturen in die Tat umzusetzen.

Kan ist zwar keine Spur charismatisch, doch sein Tatendrang beeindruckt. Offenbar arbeitet er an seinem politischen Erbe, noch immer beseelt vom Zorn über die schmachvollen Tage nach dem 11. März, als niemand Verantwortung übernehmen wollte und er alle Kritik einstecken musste. Ganz unjapanisch las er den Kraftwerksbetreibern nach dem atomaren GAU von Fukushima die Leviten. »Was ist hier los?«, schrie er und befahl den versteinerten, überforderten AKW-Bossen, sich gefälligst um ihre Reaktoren zu kümmern.

Dass Kan in die eigene Hand zu nehmen versucht, was sonst komplizierten politischen Ränkespielen unterliegt, sorgt für Verwunderung. Als er Mitte Juli forderte, dass Japan seine Abhängigkeit vom Nuklearstrom überwinden müsse, rieb sich die Nation die Augen. Einen konkreten Fahrplan legte er freilich nicht vor, und nur durch Stromsparen werden die Kraftwerke nicht entbehrlich.

Als Wegbereiter und Reformer wird er jedoch nicht gefeiert, stattdessen gilt er als seltsamer Kauz. Einen Abweichler wie Kan verträgt Japans politisches System offenbar nicht, zynische Zungen setzen seinen baldigen Rücktritt daher schon mit Schadensbegrenzung gleich.

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