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Die neue Anmaßung

KAPITALISMUSKRITIK

  • Holger Schatz
  • Lesedauer: 2 Min.

Anders als noch vor wenigen Jahren gilt heute Kapitalismuskritik gewiss nicht mehr nur als eine Angelegenheit »notorisch Ewiggestriger«. Weit verbreitet ist die Ahnung, die heutigen sozialen und ökologischen Katastrophen könnten irgendwie mit diesem Kapitalismus zusammenhängen. Braucht es also überhaupt eine weitere »Anmaßung«, wie sie uns Beat Ringger nahe legt? Unbedingt!

Ringger analysiert die Folgen der Deregulierung des Kapitalismus: Eine gigantische Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums, die wiederum in Gestalt verschuldeter und klammer Haushalte den vermeintlichen Sachzwang weiterer Umverteilungen in Form von Sozialabbau und Steuersenkungen nach sich zieht. Reichtum, der sich seinen Weg auf den Finanzmärkten bahnt, anstatt dort eingesetzt zu werden, wo Produktion und Reproduktion der Gesellschaft ihn benötigen. Das Geld sei am falschen Ort, so Ringger. Zugleich meint er, dass es mit einem Drehen an Stellschrauben nicht getan ist, sollte die Menschheit endlich aus der »Blindheit der Geschichte« heraustreten wollen. Während gängige Kapitalismuskritiken in Form der Wachstumskritik Wohlstandsverzicht nahe legen, lebt nach Ringger die Menschheit weit unter ihren Möglichkeiten.

Doch was muss passieren, dass die Möglichkeit, ein auskömmliches Leben bei einem Minimum an entfremdeter und entfremdender Arbeit für alle, eine Überwindung des Kapitalismus Realität wird? Nach Diskussion des Umschlags des russischen Aufbruchs in den stalinistischen Terror bemerkt der Autor: »Für den erfolgreichen Aufbau einer emanzipatorischen postkapitalistischen Gesellschaft wird es deshalb von entscheidender Bedeutung sein, eine fruchtbare Kultur der Konfliktbewältigung zu entwickeln. Konflikte und die ihnen innewohnenden Energien dürfen dabei keinesfalls unterdrückt werden, vielmehr muss es gelingen, sie aus der Destruktivität zu befreien, mit der sie in Klassengesellschaften ausgetragen werden. Eine Voraussetzung dafür ist, dass alle gesellschaftlichen Gruppen sicher sind, ihre Anliegen ungehindert einbringen zu können.«

Diese Überlegungen zu einem freiheitlichen Sozialismus führen zur Frage, ob und welche anthropologischen Vorraussetzungen dafür bestehen bzw. notwendig sind. Hier findet sich die wohl wertvollste Anmaßung des Buches. Ringger polemisiert gegen Freud & Co. und plädiert für eine ganzheitliche, kritische Anthropologie, »aus der sich die Offenheit dafür (ergibt), was dem Menschen menschenmöglich ist«. Mit Leo Koffler geht er von einer ersten »invarianten« Grundlage des Menschseins aus, nämlich der »Bewusstheit«, definiert als »die Fähigkeit des Menschen, sich auf Ziele auszurichten und diese handelnd zu verfolgen.«

Beat Ringger: Maßt Euch an! Auf dem Weg zu einem offenen Sozialismus. Verlag Westfälisches Dampfboot. 217 S., br., 24,90 €

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