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Der Löw ist wieder los!

Wie werden wir gewesen sein?

»Es gibt nur drei Emotionen: kalt, heiß und Sehnsucht. Der Rest ist eine Kombination«, schreibt Alexander Kluge. Und das weiß auch Tucholskys Löwe.
»Es gibt nur drei Emotionen: kalt, heiß und Sehnsucht. Der Rest ist eine Kombination«, schreibt Alexander Kluge. Und das weiß auch Tucholskys Löwe.

Die erste Berührung, die ich mit Kurt Tucholsky hatte, war eine Glosse, die meine Brieffreundin mir auf A3-Papier kopiert und mehrfach gefaltet in einen Briefumschlag gelegt hatte. In »Der Löw ist los!«, geschrieben im feuilletonistischen Stil, unter einem seiner Pseudonyme – Theobald Tiger oder Peter Panter, Ignaz Wrobel oder Kaspar Hauser.

In der Anmutung einer Zeitungsnachricht wird darin beschrieben, wie ein Löwe, namens Franz Wüstenkönig, aus dem Berliner Zoo ausbricht und über den Ku’damm spaziert. Die Aufregung ist groß; das wilde Tier wird, in seiner bedrohlichen Ausstrahlung, von diversen politischen Kontexten instrumentalisiert und rhetorisch für die jeweils eigenen Zwecke benutzt.

Der Löwe ist es irgendwann leid, ein Instrument der Menschen zu werden. Er zieht sich, gutmütig, wie er die ganze Zeit über war, freiwillig in seinen Käfig zurück und macht erst einmal ein Nickerchen im Gehege, das sicher war vor den politischen Wirren seiner Zeit. Einer Zeit, die fast genau hundert Jahre her ist. Manchmal fühlt sich das an wie ein Déjà-vu. Und manchmal frage ich mich dann: Wie wird man selbst in hundert Jahren wahrgenommen werden als historisches Subjekt? Stand man auf der richtigen oder der falschen Seite der Geschichte? The right or the wrong side of history?

Alexander Kluge sagt, ein politisch denkender Mensch solle über sich selbst im Futur II nachdenken: Wer werde ich gewesen sein? Und dann sagt er: »Zeit kann man nicht nur horizontal, chronologisch, lesen, sondern auch vertikal.« Historische Schichten liegen übereinander. Wie Stockwerke eines Hauses. Der Dachboden ist das Gehirn, das Gedächtnis, das Langzeitgedächtnis. Manche Erinnerung muss entstaubt werden, um wieder sichtbar gemacht zu werden.

Die Geburt, das ist das erste Trauma des Menschen, der dabei vom Wasser ans Land gespült wird. Der sein Leben lang versucht, das Stadium des Flüssigen wieder zu erreichen. Der buchstäblich auf dem Trockenen sitzt. Und die Mutter meiner Freundin A. sagt: »Als du das erste Mal auf meiner Brust lagst, realisierte ich, dass ich dir nicht nur das Leben, sondern auch den Tod geschenkt hatte.«

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist, und versucht es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. Alle Texte auf dasnd.de/hohmann.

Und D. sagt: Wir wollen doch alle nur zurück in den Mutterleib. Und ich denke manchmal, je älter ich werde, umso häufiger: »Mama, ich will zurück in deinen Uterus.« Mich verkriechen, unsichtbar sein. Befreit von der Last, ein historisches Subjekt zu werden.

Sie ist nicht nur die kürzeste, sondern auch die längste Reise, die man in einem Leben hinter sich bringt, mit der man all das produziert, das dann schön und schmerzhaft und schön schmerzhaft vor einem liegt.

Und mein Freund der Archäologe sagt: »Historische Schichten gibt es nicht per se. Sie sind von Archäolog*innen im Nachhinein konstruiert, um die Geschichten zu erzählen, die die Geschichte sich erzählen will. Sie geben ebenso viel Aufschluss über die historische Situation zu Zeiten der Geschichtsschreibung wie über die Zeit, die beschrieben wird.«

Und Alexander Kluge schreibt: »Es gibt nur drei Emotionen: kalt, heiß und Sehnsucht. Der Rest ist eine Kombination.« Und ich denke: Auch heute würde ein ausgebrochener Löwe von unterschiedlichen politischen Parteien und Positionen für die jeweiligen Zwecke instrumentalisiert werden.

Und D. liegt auf dem Steg wie ein sanftes, erschöpftes Raubtier in Jahrhunderttemperaturen, ein zeitgenössischer Franz Wüstenkönig in gelber Badehose über dem gelben Fell. Und ich denke daran, wie vor zwei Jahren in Kleinmachnow ein Löwe gesichtet wurde, der sich dann als Wildschwein entpuppte. Im Zuge der Ermittlungen stellte sich auch heraus, wie viele Löwen und andere Raubtiere tatsächlich in privaten Haushalten in und um Berlin gehalten werden. Der eigentliche Skandal.

Und Jamieson Webster schreibt: »Die Sexualität des Menschen gerät da in die Krise, wo wir vom Wasser ans Land gespült werden. Wir müssen uns auf die Suche nach dem Flüssigen machen, im Umgang miteinander.« Kann man das auch politisch verstehen?

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