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  • Thema: Orwell–Rezeption

In der Falle von Doublethink

Zwiedenken als Bestandteil des modernen westlichen Bewusstseins

  • Matthias Krauß
  • Lesedauer: 7 Min.
Der Schriftsteller, Essayist und Journalist George Orwell (1903-1950) bei der BBC 1945 aufgenommen
Der Schriftsteller, Essayist und Journalist George Orwell (1903-1950) bei der BBC 1945 aufgenommen

Er kämpfte an der Seite von Ernest Hemingway, Ludwig Renn und Ernst Busch in Spanien gegen den Faschistenputsch Francos. Er war Sozialist und Freidenker. George Orwell, mit bürgerlichem Namen Eric Arthur Blair, hasste und bekämpfte die Kolonialpolitik seines demokratischen Vaterlandes Großbritannien, er hasste Heuchelei und Lüge, und er starb mit 47 Jahren an einer verschleppten Lungenentzündung. Orwell hinterließ mit seiner Schreckensutopie »1984« eine geniale Warnung und ein geistiges Modell, an dem sich jede Generation aufs Neue abarbeiten muss.

In der DDR war »1984« ein verbotenes Buch, und die Gründe dafür sind nicht zu akzeptieren, wohl aber zu benennen. Relativ leicht lassen sich in der von Orwell entworfenen monströsen Gesellschaft Elemente finden, welche als harte und auch recht genaue Kritik an DDR-Zuständen verstehbar sind. An Zuständen, die keineswegs Ruhmesblätter dieses Staates waren. Staatlich dominierte Organisationsstrukturen, Militarisierung, Überwachung, Behinderung, wenn nicht Verfolgung Andersdenkender, geistige Vereinheitlichungstendenzen, Verhinderung einer offenen Debatte, Einbahnstraße beim Informationsfluss, Monstranzenbewegung bei Demonstrationen, die Unterwerfung des Rechts durch die Macht, ideologische Kampagnen - dies waren längst nicht die einzigen Parallelen zwischen Orwellian und der DDR.

Warnung vor Gefahren in alle Richtungen

Vor allem im dritten Teil dann aber dreht die Handlung dieses utopischen Romans ab in eine Orgie der praktisch ziellosen und grenzenlosen Grausamkeit. Das lässt sich auf die DDR nicht münzen - so war sie nicht, innere Tendenzen dafür besaß sie auch nicht, und insofern müssten auch jene Menschen, denen ihr Sozialismus alles war, das nicht auf sich beziehen.

Orwell selbst hat betont, dass es ihm mit diesem Buch nicht um die politische Schuldzuweisung an eine Seite gehe, sondern er durchaus in alle Richtungen vor Gefahren warnen wollte. Der für gewöhnlich selbstgefälligen Orwell-Rezeption im Westen setzte vor allem der deutsch-amerikanische Philosoph und Sozialpsychologe Erich Fromm (1900 - 1980) wichtige Schranken: Wer in Orwells Beschreibung lediglich eine Entlarvung des Stalinismus sehe, der übersehe einen grundsätzlichen Wesenszug der Orwellschen Analyse. Das Entscheidende nämlich bleibe allgemein und weltweit gültig: Wie werden Sprache und Denken verkrüppelt, wenn die Wahrheit in etwas transformiert wird, was von politischen oder Machtinteressen abhängt.

Orwell ersann dafür sein geniales Konstrukt »Doublethink«, das Zwiedenken. Gemeint ist die auferlegte und antrainierte Fähigkeit, gegensätzliche Positionen gleichzeitig zu vertreten. Das hat laut Erich Fromm nichts Zynisches, Ironisches oder Spielerisches. Und das ist es, was »1984« heute noch lesenswert macht. Dem Zwiedenken verfallen ist ein Mensch, dem sämtliche eigene, innere Maßstäbe ausgetrieben worden sind. Nur dann ist er seitens einer Übermacht zombihaft steuerbar. Zwiedenken lebt von der Zerstörung von Gedächtnis und davon, dass es keine allgemeinen Maßstäbe gibt, an denen sich das Verhalten von Menschen oder Staaten messen lässt.

Nur - diesen Einwand schuldet man der Wahrheit: Ein solches Doublethink entsteht nicht - wie 1989 gesehen - in autoritären Staaten à la DDR. Wenn seinerzeit ein Kind daheim Westfernsehen sah und angehalten war, in der Schule darüber nicht zu sprechen, um der Lehrerin zum Munde zu reden, wenn dieses Kind sich also praktischerweise ein »zweites Gesicht« zulegte, dann war das kein Ausdruck von Zwiedenken. Das war lediglich Mimikry, die Lüge, wie sie heute Bestandteil von Bewerbertraining ist. Die Täuschung, ein Sichverstellen gehören wie selbstverständlich zur gegenwärtigen Lebensweise. Mimikry ist nicht nur kein Zwiedenken, sondern sogar das Gegenteil davon. Was Mimikry wie auch die Lüge vom Zwiedenken trennt, ist, dass sich die Beteiligten des verlogenen Verfahrens bewusst sind.

Und die Konsequenzen zeigten sich 1989. Weil in der DDR eben kein massenhaftes Zwiedenken vorgelegen hatte, führte ihre Agitation ins Leere oder sogar ins Gegenteil des Angestrebten: Die anvisierte Vereinheitlichung trug dazu bei, dass in der Gesellschaft Sehnsucht nach Individualität und Unterscheidbarkeit immer stärker wurde. Tendenzen der Militarisierung sorgten in der gesellschaftlichen Praxis dafür, dass in ihren Endjahren die junge Generation so pazifistisch war wie niemals in der deutschen Geschichte.

Fündig bei heutigen Politikmustern

Mit dem Orwellschen Zwiedenken hat das nichts zu tun. Da müsste man sich vielmehr heutige Muster von Politik und ihrer Darbietung betrachten, und man würde auf eine verblüffende Weise fündig. Ergebnis wäre nicht allein, dass gerade das »westliche Denken« anfällig für Zwiedenken ist, sondern sogar, dass dieses Denken schon längst von Zwiedenken zerfressen ist.

Drei scheinbar absurde Formeln beherrschen im Roman »1984« den Orwell-Staat: »Ignoranz ist Stärke«, »Krieg ist Frieden«, »Freiheit ist Sklaverei«. So seltsam es klingt: Es ist nicht einmal besonders kompliziert, die Gültigkeit dieser Formeln im heutigen politischen Leben nachzuweisen.

Denn an wem kann es denn vorbeigegangen sein, dass der Überfall und die Bombardierung Jugoslawiens, die nachfolgenden Überfälle auf ganze Regionen eben alles sein sollte aber kein Krieg? Auch der Angriff auf die libysche Armee geht unter allen Umständen als »Einsätze« durch die Medien - so als würden sich in den Kampfjets Entwicklungshelfer betätigen. Die NATO - als Verteidigungsbündnis gegründet - entwickelte sich zu einer Angriffskoalition. Ihr Krieg ist Frieden. Bei Orwell heißt das Kriegsministerium übrigens Friedensministerium. Dieser Ausdruck von Zwiedenken ist Zwillingsbruder der Barbarei. Das Recht des Stärkeren hat über das nach 1945 entwickelte Völkerrecht gesiegt. Von Völkerrecht spricht kein westlicher Politiker mehr, die Vokabel ist aus dem politischen begrifflichen Arsenal entfernt worden. Die geistige Vorbereitung der Gesellschaft muss dabei Schritt halten. Unerlässlich für den Erfolg ist eine junge Generation, die unfähig ist, die Verbrechen des Westens als solche wahrzunehmen.

Auch in der von Orwell beschriebenen Welt ist kritisches Denken gegenüber der eigenen Seite ausgeschaltet, und es erscheint als völlig natürlicher Vorgang, dass Freunde über Nacht Feinde werden. Mit deren Verhalten muss das nicht das Geringste zu tun haben. Ist uns das fremd? Saddam Hussein, Osama Bin Laden, Ägyptens Diktator Mubarak, Chiles Pinochet - alle waren sie lange Jahre, Freunde und Verbündete des Westens. Bekamen dort Waffen, Geld Auszeichnungen von Politikern überreicht, denen offenbar überhaupt nichts peinlich ist. Frankreich hat Staatschef Gaddafi mit Liebenswürdigkeiten geradezu überhäuft, bevor es ihm seine Kampfjets auf den Hals schickte. Der Mohr wird in die libysche Wüste geschickt, wenn er seine Schuldigkeit getan hat.

Viel mehr als eine einfache Lüge

Und schon zu Erich Fromms Zeiten war Doublethink ein Pfeiler des westlichen Denkens. »Was wird nicht alles unter ?freie Welt? verstanden?«, fragte Fromm und wies darauf hin, dass die vom Westen ausgehaltenen oder sogar installierten mörderischen Diktaturen wie selbstverständlich den Kreis der »Freien Welt« zierten. In Asien, Afrika und Lateinamerika haben die geeichten Mächte der Freiheit in den vergangenen 150 Jahren für Unterdrückung und ein Sklavendasein von Millionen Menschen gesorgt. Und die geistige Abrundung erfährt dieser Vorgang in der Weigerung, die Verbrechensgeschichte des Westens als solche zu betrachten. Im demokratischen Mutterland USA vertrugen sich Freiheit und Demokratie 100 Jahre lang mit Sklaverei und Völkermord (an den indianischen Ureinwohnern). Wenn die Parole »Freiheit ist Sklaverei« hier nicht gilt, wo gilt sie dann?

Vor einigen Jahren erhob sich in Deutschland ein Sturm der Empörung. In der Stasi-Unterlagenbehörde war ein das DDR-Regime in seiner Menschenfeindlichkeit entlarvendes Dokument aufgefunden worden. Darin wurde erörtert, wie sich zu verhalten sei, wenn an der bewachten DDR-Grenze ein Kind zu Schaden kommen sollte. Wohlgemerkt - der Fall war nicht eingetreten, es war darum gegangen, sich geistig auf eine solche Situation einzustellen.

Die Tatsache, dass die Amerikaner in Vietnam nicht etwa von Kindermord geredet, sondern tatsächlich eine halbe Million Kinder auf dem Altar der Freiheit geschlachtet haben, trübte das Verhältnis Deutschlands zu diesem Staat keine Sekunde. Dass laut dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen Tag für Tag 40 000 Kinder in den Hinterhöfen der »Freien Welt« an Hunger und Unterernährung zugrunde gehen, soll bei der Bewertung dieser Welt keine Rolle spielen. Standhafte Ignoranz ist an dieser Stelle Ehrensache. Denn Ignoranz ist Stärke. Und anders hat es Orwell ja auch nicht gesagt.

Doublethink, Zwiedenken feiert längst Triumphe. Es ist aber leider mehr als einfach Lüge. Es weist laut Erich Fromm den Weg in eine Welt von Automaten, ohne eine Spur von Individualität, Liebe oder kritischem Denken. In eine Welt von Kreaturen, die diesen Verlust noch nicht einmal bemerken, geschweige denn unter ihm leiden.

Und von Orwells Vermächtnis schrieb Fromm: »Er meint uns auch.«

Der Umschlag der Erstausgabe seines Romans »1984« in deutscher Übersetzung (unten)
Der Umschlag der Erstausgabe seines Romans »1984« in deutscher Übersetzung (unten)
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