Löwenzahn und Kuh

»Für ein Lied und hundert Lieder« - das kaum ertragbare, in Höllen hinabsteigende Buch von Liao Yiwu

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Er ist schamlos, sein Buch ist unverschämt. Er ist gierig, sein Buch schwappt vor Gier. Er ist maßlos, sein Buch ist anmaßend. Er liebt, als reiße ein Wolf, sein Buch ist reißerisch, reißt an den Nerven. Er häutet sich, sein Buch zieht vom Leder. Er schreit, sein Buch ist ebenfalls ein Schrei. Er dreht jeden Ton hoch, übersteuert die Empfindungen, stößt in die eigenen Wunden, stößt ab. Er ist rücksichtslos elementar, sein Buch ist das Buch eines »kriminellen Elements«. Er ist ein wilder Dichter. Liao Yiwu.

Die klassische Odyssee hat einen modernen Kurs. Für diesen chinesischen Schriftsteller besteht er in der gnadenlos Gewalt heckenden Landschaft der Gerichts- und Untersuchungsgefängnisse sowie Umerziehungslager volksrepublikanischer Macht. Vereinsamungsfolter. Selbstwertvernichtung. Aufenthalt unter Mördern: ein Panorama menschlicher Niederstürze ins Höllische. Es fließt Blut, aber es fließen auch Tränen - Liao Yiwu ist dort, zuunterst, ein entsetzter Beobachter, aber inmitten einer messerblitzenden Welt der Entehrungen und Tötungen bleibt er Mitfühlender; ein Nachfahr Dantes, ein katastrophisch belastetes Herz - das nicht aufhören kann, noch im Ekel für die Feier des Lebens zu schlagen, Alarm zu schlagen.

»Für ein Lied und hundert Lieder« - das ist die Geschichte dieses ungebärdigen Zartkopfes, den sein Schreiben in die Fänge der kommunistischen Herrschaft bringt: eine Geschichte der nackten Brutalität, die jede Gefängniszelle in einen Folterkeller verwandelt. Perversion als Alltag von Menschen, die aus der Gesellschaft genommen werden mussten und nun zu Schlächtern und Peinigern Ihresgleichen werden. Das System bestraft Verbrecher, indem es sich selbst verbrecherisch verhält: aufstachelnd, pferchend, sklavenhalterisch, heimtückisch zurückhaltend - um Todesurteile zu vollstrecken, als sei man bei fühllosester Massentierhaltung.

Und da inmitten ein Dichter, der 1989 nach den Ereignissen auf dem Platz des Himmlischen Friedens das Gedicht »Massaker« schrieb, für vier Jahre ins Gefängnis geworfen wurde und darüber Geschichten des »Bodensatzes« aufschrieb (»Fräulein Hallo und der Bauernkaiser«). Nun gibt es auch dieses Buch - das drei Mal neu geschrieben werden musste, weil die Manuskripte jedes Mal konfisziert wurden; es ist in China ein verbotenes Buch.

Damit setzt Liao Yiwu auf besonders eindringliche Weise die Gulag-Literatur fort, die der Sowjetsozialismus unfreiwillig erfand und deren Wert darin bestand, den Stalinismus nicht als böses Geschwür des Systems zu offenbaren, sondern als dessen konsequenten Ausdruck. Das Lager war unverhinderbar, wo eine Kaderpartei gar nicht anders konnte, als sich wie eine Fessel an alles und um alles zu schmieden.

Das Wesen dieses Werkes ist das Trauma, sind Fetzen des Fühlens und Verarbeitens, es ist der brüllende Tanz im Schmutz, und es ist - zwischen Dieben und Mördern, zwischen erschütternd unglaublichen Verhörmethoden - ein wahnwitzig aufschäumendes Begehren nach freier Existenz. Nicht nur im Gefängnis, überall, wohin Liao Yiwu geht, ist er ein Bedrängter, Verfolgter, ein in die Angst Gestürzter, der die staatlich organisierte Kesselsituation mit ekstatischer Wollust beantwortet; das gibt dem Buch etwas Kreaturgewaltiges, Himmelanschreiendes, auch tobend Blumiges, und das im Wechsel mit unerträglich konkreten Schilderungen von Haft- und Lebensbedingungen.

Die Farben in den poetischen Passagen kämpfen gegeneinander wie hochfühlend Liebende, ja, es findet ein Liebeskampf statt - der Metaphern, die sich hervorbringen, um sich dem nächsten Bild hinzugeben, als stürben sie, übereinander herfallend. »Schnauzkalt und hautwarm, zornig und charismatisch«, nennt Nobelpreisträgerin Herta Müller das Buch und hebt hervor, dass die Sadismen unter den Gefängnisinsassen die Rückseite der Pein seien.

Wenn man das Buch hinter sich hat, weiß man, dass es man so etwas nicht einfach hinter sich lassen kann. Diese sehr gegenwärtige Kultur der Menschenzerstörung, die sich mit einer frappierend erfolgreichen Modernität umgibt: Kommunistischer Charme lässt weltweit sein Geld lächeln oder zeigt Zähne, Millionen Menschen im eigenen Lande profitieren, da mag manchem das Aufbäumen eines gequälten Dissidenten marginal vorkommen, unwesentlich wie das Aufbäumen eines Löwenzahns beim Heranstampfen der mit dem Maul schon vormahlenden Kuh. Der Löwenzahn aber ist der Held.

Die Kraft des mitunter kaum zu ertragenden Buches liegt in der Art, wie der Autor das Erlebte und Beobachtete im Nachhinein in stürmischsten Expressionismus fasst und herausschleudert. Hier wird Erfahrung nicht bloß wiedergegeben, Liao Yuwi steigert sich in ein Gespräch mit sich selbst hinein, er steht in flehendem Kontakt zu allen Organen seines Körpers, sie mögen doch den Schmerz, die Schmach noch einmal in sich einfressen lassen - für einen vulkanischen Hymnus an die Sehnsucht nach Freiheit und Würde. Leben bleibt das Höchste, inmitten der Vergiftung, Vertierung. Es dröhnt, flüstert, singt und brüllt aber aus diesem Buch ein »Dennoch!«, was die Notwendigkeit von Moral und Gewissen betrifft. Auch Hoffnung brüllt: Frost ist nicht unsterblich.

Das bitter Wühlende am Schicksal des 1958 Geborenen liegt in der Willkür. Er ist kein durch die listige Schule der Dissidenz Gegangener, er folgte im Blutmai 1989 einer Eingebung seines Gerechtigkeitsgefühls, dies reichte für den Stoß von der Klippe. Neben Haft Verbannung in eine Bergprovinz, gemeinsam mit seiner Frau, einer Malerin. So unendlich weit das Land, so nah jederzeit die tausend Augen des Staates, der das Volk wie Ameisen verwaltet, so schreibt es Liao Yiwu. Überwachung, Unterwanderung von Seele und Sozialstand. Durch vier Universitäten geht dieser Dichter nach eigenen Worten: Hunger, Schande, Obdachlosigkeit, Gefängnis.

»Das Massaker geschieht in drei Welten. In den Flügeln der Vögel, in den Schuppen der Fische, im feinsten Staub.« So heißt es im Gedicht, das Liao Yiwu 1989 zum Verhängnis wurde. Vögel, Fische, Luft - der Anruf göttlicher Bruchstücke. Freiheit ist unteilbar, sie wird, wo der Mensch Menschen zerstört, in allem zerstört, was zwischen Gras und Himmel Frieden heißt.

Liao Yiwu: Für ein Lied und hundert Lieder. Aus dem Chin. von Hans Peter Hoffmann. Verlag S. Fischer. 592 S., geb., 24,95 Euro.

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