Israels Protestbewegung lebt
Demonstranten in Tel Aviv forderten bezahlbare Wohnungen
Es waren die größten Massenkundgebungen, seit im August mehr als 450 000 Menschen auf die Straße gegangen waren. In Tel Aviv marschierten diesmal 20 000 Demonstranten vom Rothschild-Boulevard, dem Ort der Protest-Camps während des Sommers, zum Yitzhak-Rabin-Platz, wo vor dem Gebäude der Munizipalität eine mehrstündige Kundgebung stattfand. In Jerusalem protestierten 5000 vor der Knesset.
Eine geplante Manifestation in der Wüstenstadt Beerscheba wurde dagegen abgesagt, weil die Behörden Zusammenkünfte mit mehr als 500 Personen verboten hatte, nachdem in der Region mehrere Raketen aus dem Gaza-Streifen eingeschlagen waren. Viele Redner auf den Kundgebungen im ganzen Lande versicherten den Bewohnern im Süden ihre Solidarität. Die Raketen taten der ausgelassenen Stimmung auf dem Yitzhak-Rabin-Platz keinen Abbruch.
»Ich habe die Demo sehr genossen«, sagt Gal, ein arbeitsloser Jugendlicher aus einem Vorort, nach der Kundgebung bei einem Bier in einer Tel Aviver Bar. Zwischen Comedy und Popmusik gab es auch politische Reden, wie etwa jene des Soziologiestudenten Raviv Fahum von der Tel Aviv Universität. Der Protestsommer sei für ihn noch nicht vorbei, sagte er von tosendem Applaus begleitet. »Wir Studenten können nicht einfach so wieder in den Vorlesungssaal zurückkehren, als hätte es diesen Sommer nie gegeben.«
Einat, eine der vielen jungen Frauen in der Menge der Demonstranten, die dem Studenten Beifall spendet, erklärt, was sich ihrer Meinung nach ändern müsse: »Die Löhne müssen steigen und die Mieten sinken. Solange das nicht passiert, werde ich weiter demonstrieren.« In Israel beträgt der Durchschnittslohn eines Facharbeiters 1800 Euro, fast genauso viel kostet aber schon die Monatsmiete für eine Dreizimmerwohnung in Tel Aviv. Gal, der Arbeitslose, der vor kurzem für einige Zeit in Berlin lebte, sagt: »Die Mieten in Berlin sind im Vergleich zu den Wuchermieten in Tel Aviv ein Witz.«
Vicky Vanunu, eine alleinerziehende Mutter, die aus ihrer Wohnung in einem besetzten Haus geräumt wurde, schimpfte in ihrer Rede: »Sie (die Strafverfolgungsbehörden) beschuldigen uns (Besetzer), das Besetzen von Häusern verstoße gegen das Gesetz. Dabei ist es ein Verbrechen, wenn der israelische Staat es zulässt, dass Wohnungen leer stehen, obwohl es viele Obdachlose gibt.«
Zwischen den Redebeiträgen riefen die Demonstranten immer wieder: »Wir verlangen soziale Gerechtigkeit!« und »Wir wollen einen Wohlfahrtsstaat!«
Der Student Fahum forderte in seiner Rede die Bevölkerung zum Protest gegen die hohen Preise auf: »Dies ist ein Protest aller Israelis, ob Juden oder Araber, Mann oder Frau, religiös oder säkular.« Der ultraorthodoxe Rabbi Juda Schein, Mitglied des Jüdischen Forums für Soziale Gerechtigkeit, erinnerte daran, dass Solidarität und soziale Gerechtigkeit »immanente Werte des Judentums sind. Sich der sozial Schwächeren anzunehmen und sie zu unterstützen, gehört zur Moral des Judentums.« Die Regierung Benjamin Netanjahus jedoch habe keine jüdische Moral und wolle mit der Bombardierung des Gaza-Streifens (am Vorabend der Proteste) von den sozialen Unruhen ablenken. David, ein junger Demonstrant, der bereits vor zwei Monaten mit auf die Straße gegangen war, kritisierte am Rande der Demonstration den Siedlungsbau des Kabinetts Netanjahu: »Anstatt für viel Geld wenige neue Wohnungen bei Ramallah (im palästinensischen Westjordangebiet) zu bauen, die teuer zu bewachen und zu versorgen sind, sollte die Regierung lieber viele bezahlbare Wohnungen in Tel Aviv bauen.«
Daphne Lief, eine der Organisatorinnen der Kundgebung in Tel Aviv, zeigte sich zufrieden mit der geringer als erwartet ausgefallenen Teilnehmerzahl: »Dies ist der Beweis, dass die Proteste trotz der Spannungen im Süden noch nicht zu Ende sind.« Lief ist auch das bekannteste Gesicht des neuerlichen Protests. Sie war die erste, die auf dem Rothschild-Boulevard ihr Zelt aufgeschlagen hatte.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das beste Mittel gegen Fake-News und rechte Propaganda: Journalismus von links!
In einer Zeit, in der soziale Medien und Konzernmedien die Informationslandschaft dominieren, rechte Hassprediger und Fake-News versuchen Parallelrealitäten zu etablieren, wird unabhängiger und kritischer Journalismus immer wichtiger.
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!